Vorwort

Schweizer Literatur aus ökokritischer Sicht

Ökologische Phänomene und Fragestellungen sind seit Jahren Gegenstand der öffentlichen Debatte und des wissenschaftlichen Interesses.

Der Ecocriticism, der sich seit den 1980er Jahren aus den USA zuerst in Großbritannien verbreitete und der im Laufe der Zeit eine internationale Gestalt annahm, bildet gegenwärtig eine der ergiebigsten literaturwissenschaftlichen Forschungsrichtungen, die nicht nur in der englischsprachigen Literatur Hochkonjunktur hat.

Obwohl Deutschland als Ökoland gilt, da hier schon am Anfang der 1970er bzw. 1980er Jahre Umweltbewegungen und -parteien wirkten, und obwohl Friedrich Schiller in etlichen Handbüchern zum Ecocriticism als Wegbereiter der modernen ökokritischen Bemühungen betrachtet wird (Über naive und sentimentalische Dichtung wird als „a prototype of ecocritical theory“1 angesehen), lassen sich im deutschsprachigen Raum erst seit den 1990er Jahren ökologisch orientierte literaturwissenschaftliche Beiträge feststellen. Seitdem hat sich der Ecocriticism zwar ziemlich langsam, aber kontinuierlich und massiv etabliert, was zahlreiche literaturwissenschaftliche Arbeiten, Tagungen und Netzwerke belegen. Ein Zeichen für die Kanonisierung des Ecocriticism sind die nun stets anzutreffenden Einträge in einschlägigen Lexika und Handbüchern, wie z. B. im Metzler Literaturlexikon.2

In seinem Standardwerk Literatur und Ökologie (1998) definiert Axel Goodbody den Ecocriticism folgendermaßen:

„[Ö]kologisch orientierte Literaturkritik sucht einen Beitrag zur Überwindung der Kluft zwischen Natur und Kultur zu leisten, indem sie Prosa und Lyrik, aber auch Essayistik, Reisebeschreibungen und Autobiographik vor dem Hintergrund der sich ändernden natürlichen Umwelt kritisch beleuchtet.“3

Die Ökokritische Betrachtung von Literatur konzentriert sich auf die Beziehung zwischen menschlichen und nicht menschlichen Akteuren (Tieren, Pflanzen, Dingen), wie sie sich im Kunstwerk zeigt; berücksichtigt werden kann auch das ökologische Beziehungsgeflecht von auβertextuellen Elementen wie den Lebensverhältnissen der jeweiligen Verfasser/innen, den Entstehungszeiten ihrer Texte oder ihrer Position gegenüber der institutionellen Kultur und der Politik.

Ökologisch orientierte Literatur kann zwar die Probleme in der Mensch-Umwelt-Beziehung nicht lösen, sie kann aber durch deren künstlerische Darstellung auf sie aufmerksam machen und die Energien der Rezipient/innen im Hinblick auf eine produktive Auseinandersetzung mit der Komplexität der Interaktion zwischen Natur und Kultur mobilisieren. Dem, was „in welcher Hinsicht auch immer das ‚Andere‘ ist und als solches unterdrückt, zerstört oder marginalisiert wird“4 möchte ökologisch orientierte Literaturwissenschaft eine Stimme geben. Insofern wohnt der Ökokritik eine engagierte, politische Dimension inne.

Wie versteht der Mensch seine Beziehung zur natürlichen Umgebung? Wie werden Probleme wie Klimawandel, Überpopulation, Luft- und Wasserverschmutzung, Umweltzerstörung, Ressourcenverknappung literarisch gestaltet? Wie ist Kultur an der Gestaltung von Natur beteiligt? Welche Anzeichen findet man in einem literarischen Text dafür, dass die anthropozentrische Sichtweise in Frage gestellt bzw. überschritten wird? Ob und inwiefern können Parallelen zwischen literarischen Gattungen bzw. Untergattungen und Grundbegriffen der Umweltwissenschaften gezogen werden (z. B. Recycling und Montage-Roman5)? Inwiefern ist es möglich, von einem literarischen Text als Ökosystem zu sprechen?6 Sind für ökologische Literatur bestimmte Formen bzw. Gattungen typisch? Diese sind nur einige wenige Fragen, die im Rahmen des Ecocriticism behandelt werden können.

Das von Hubert Zapf erarbeitete ‚triadische Funktionsmodell‘7 und Greg Garrards rhetorisch-gattungsästhetische Annährungsweise, um nur auf zwei der zahlreichen theoretischen Ansätze hinzuweisen, bieten nützliche Instrumentarien zur Analyse von literarischen Texten aus der ökokritischen Perspektive.

Obgleich das Nature Writing eine sehr eng mit den geschichtlich-gesellschaftlichen nordamerikanischen Verhältnissen verbundene kulturelle Erscheinung ist, spielt das Verhältnis Mensch und Natur bzw. Umwelt auch in der Schweizer Literatur eine kaum wegzudenkende Rolle, und zwar so gut wie in jeder Phase ihrer Entwicklung: Man denke etwa an Salomon Gessner, Albrecht von Haller, Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller, außerdem an die philosophisch-kulturgeschichtliche europäische Bedeutung der Naturkonzeption von J. J. Rousseau. Im 20. Jahrhundert richtet sich die Aufmerksamkeit sowohl auf einige für den lokalen schweizerischen Kontext brennende Themen, wie z. B. im Roman Wie wird Beton zu Gras von Otto F. Walter, in dem es um den Bau eines Atomkraftwerks in Gösgen geht, als auch auf Themenbereiche allgemeinen Interesses, wie in den Physikern von Friedrich Dürrenmatt und in Der Mensch erscheint im Holozän von Max Frisch. Die ökologische Sicht rückt in der deutschsprachigen Schweizer Literatur der letzten Jahrzehnte immer mehr in den Vordergrund. Dazu zählen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, Texte von Erika Burkart, Gertrud Leutenegger, Walter Vogt, Adolph Muschg, Franz Hohler, Hermann Burger, Hedi Wyss, Beat Brechbühl, Walter Kauer. Obwohl hinsichtlich dieser und anderer Autorinnen und Autoren aus ökokritischer Perspektive schon Pionierarbeit geleistet wurde.8 bleibt vieles noch unerforscht.

Die dritte Nummer der Zeitschrift CH-Studien setzt sich zum Ziel, einer repräsentativen Auswahl von Texten der Schweizer Literatur des 20. und des 21. Jahrhunderts nachzugehen, die aus ökokritischer Sicht besonders aufschlussreich sein könnten.

Die Herausgeber
Dariusz Komorowski, Anna Fattori, Ján Jambor


  1. Garrard, Greg: Ecocriticism. London – New York 2012, 2. Aufl., S. 5
  2. Vgl. Heise, Ursula: „Ecocriticism/Ökokritk“. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart 2001, S. 128‒129.
  3. Goodbody, Axel: Literatur und Ökologie. Eine Einführung. In: Literatur und Ökologie. Hg. v. Axel Goodbody. Amsterdam/Atlanta 1998, S. 11‒40, hier S. 28.
  4. Iovino, Serenella: Ecocriticism oder: Wenn Literatur vom Anderen spricht. In Butzer, Günther, Zapf, Hubert (Hg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. 6, Tübingen 2013, S. 205‒216, hier S. 208.
  5. Vgl. Reid, J. H.: Silvio Blatters Romantrilogie „Tage im Freiamt“. In: wie Anm. 3, S. 162
  6. Vgl. Bate, Jonatan: The Ode “To Autumn” as Ecosystem. In: Coupe, Laurence (Hg.): The Green Studies Reader. From Romanticism to Ecocriticism. London/New York 2000, S. 256‒261.
  7. Vgl. Zapf, Hubert: Kulturökologie und Literatur. Ein transdisziplinäres Paradigma der Literaturwissenschaft. In: Kulturökologie und Literatur. Beiträge zu einem transdisziplinären Paradigma der Literaturwissenschaft. Hg. v. Hubert Zapf. Heidelberg 2008, S. 15.-44, bes. S. 32-39, und Garrard, Ecocriticism (s. Anm. 1), S. 1‒17.
  8. Vgl. besonders Jürgen Barkhoff: Green Thought in Modern Swiss Literature. In: Green Thought and German Culture. Historical and Contemporary Perspectives. Hg. v. Colin Riordan. Cardiff: University of Wales Press 1997, S. 223‒241; ders.: ‚Wie muß ein Satz aussehen, der Mut machen soll?’ Zum Zusammenhang von Ökoengagement, Naturerfahrung und literarischer Form im Werk von Walter Vogt und Otto F. Walter. In: Literatur und Ökologie. Hg. v. Goodbody (s. Anm. 3), S. 177‒198; J. H. Reid: Silvio Blatters Romantrilogie „Tage im Freiamt“. Der Öko-Roman zwischen Heinrich Böll und Adalbert Stifter. In Literatur und Ökologie. Hg. v. Goodbody (s. Anm 3), S. 161‒170; Peter Utz: Kultivierung der Katastrophe. Literarische Untergangsszenarien in der Schweiz. München: Fink 2013; Vesna Kondrič Horvat: Natur versus Kultur?: zum Roman „Der Ozean steigt“ von Hedi Wyss. In: Literarische Freiräume: Festschrift für Neva Šlibar. Hg. v. Vesna Kondrič Horvat et al. Ljubljana: Znanstvena založba Filozofske fakultete, 2019. S. 375‒391.