Der barmherzige Hügel von Lore Berger: Wenn selbst die Natur den Schmerz des Lebens nicht heilen kann

Maurizio Basili
Universität „Gabriele D‘Annunzio” Chieti-Pescara

Von Lore Berger wurde uns lediglich ein Roman überliefert, nämlich Der barmherzige Hügel. Eine Geschichte gegen Thomas, der 1943 für den Gutenberg-Literaturpreis eingesandt wurde und den fünften und letzten Platz belegte; zu dem Zeitpunkt hatte sich die Autorin bereits das Leben genommen. Wahrscheinlich war der Roman zu wenig „erbaulich“ zu einer Zeit, als die Schweiz angesichts des vorherrschenden Kriegspessimismus Werke brauchte, die traditionelle Schweizer Werte verherrlichten. Der Roman war nicht patriotisch und nicht genug ‚naturverbunden‘ in einem Land, in dem – wie Robert Walser feststellte – „alles Natur ist“ und in dem sie eine zentrale, heilbringende und oft beruhigende Funktion in literarischen Texten hat. In Bezug auf diesen introspektiven Roman, der eine fragmentarische Erzählstruktur aufweist, ist oft behauptet worden, die Natur habe hier die Funktion, das Lebensübel der jungen Protagonistin zu lindern. Mit dem vorliegenden Beitrag möchte man über diese erste Lektüre hinausgehen und beweisen, dass die Natur in diesem Werk nur scheinbar tröstend ist. In diesem Roman wird zwar eine Art Mensch-Natur-Einheit erreicht, aber nicht im Novalis‘schen Sinne, denn die Natur wird durch die Schandtat der sie umgebenden Welt kontaminiert, sie wird in jene falsche und künstliche Welt eingegliedert, die nur Enttäuschungen bieten kann. Selbst die Natur kann die Menschen nicht retten.
Schlüsselwörter:
Lore Berger, Ökokritik, Deutschschweizer Literatur, Floriographie

Der barmherzige Hügel by Lore Berger: When Even Nature Cannot Heal The Pain of Life
Only one novel by Lore Berger has been handed down to us, Der barmherzige Hügel. Eine Geschichte gegen Thomas, which was awarded the fifth and last place in the Gutenberg Literature Prize in 1943, after the author had already committed suicide. The novel was probably not sufficiently „edifying” at a time when Switzerland, faced with the prevailing war pessimism, needed works that glorified traditional Swiss values. The novel was neither patriotic nor adequately ‚close to nature’ in a country where – as Robert Walser noted – „all is nature” and where nature has a central, salutary and often calming function in literary texts. With regard to this introspective novel, which has a fragmentary narrative structure, it has often been claimed that nature here has the function of mitigating the young protagonist’s pain of living. The present contribution aims to go beyond this first reading and prove that nature only seems to be comforting. In this novel, a kind of man-nature unity is achieved, but not in the Novalisian sense, because nature is contaminated by the outrageousness of the world surrounding it, it is incorporated into that false and artificial world which can offer disappointment only. Even nature cannot save mankind.
Keywords:
Lore Berger, Ecocriticism, Swiss-German Literature, Floriography

1. Einleitung

Von Lore Berger wurde uns lediglich ein Roman überliefert, nämlich Der barmherzige Hügel. Eine Geschichte gegen Thomas, der 1943 für den Gutenberg-Literaturpreis eingesandt wurde und den fünften und letzten Platz belegte; zu dem Zeitpunkt hatte sich die Autorin bereits das Leben genommen, indem sie sich vom Wasserturm des Bruderholzes auf den barmherzigen Hügel stürzte, der den Kern ihres einzigartigen literarischen Schaffens bildet. Das Werk wird als Roman mit Rahmenhandlung in Form eines langen Briefes präsentiert, den Esther an ihren Liebhaber Thomas schreibt. Darin denkt sie über Freundschaften, erste literarische Versuche, Familienbande und Krankheit nach. Am Anfang der Geschichte ist die Protagonistin auf dem Rückweg aus dem Krankenhaus. In der Erzählung werden Elemente im Zusammenhang mit der Krankheit, an der sie leidet, der Hypophysenkachexie, auch bekannt als Morbus Simmonds, vermittelt. Esther stirbt an den Folgen einer falschen Transfusion, dem letzten Akt in einem Behandlungszyklus, der ihre Gesundheit hätte wiederherstellen sollen. Ihre Geschichte wird in einem von ihrem Bruder gefundenen Manuskript erzählt, wie in einer kurzen Einleitung dargestellt. Dieser beendet das Werk ebenfalls mit einer abschließenden Anmerkung und bildet damit den erzählerischen Rahmen. Der Topos des wiederentdeckten Manuskripts, der in der Literatur nicht neu ist – Beispiele gibt es seit der klassischen Literatur mit den Ephemeris belli Troiani1 –, soll den Eindruck der Authentizität der erzählten Fakten schaffen.

Sicher war Bergers Roman zu wenig „erbaulich“ zu einer Zeit, als die Schweiz angesichts des vorherrschenden Kriegspessimismus Werke benötigte, die wahre Schweizer Werte verherrlichten. Der barmherzige Hügel war ein „ negatives Werk“,2 weil zu wenig patriotisch, aber auch, weil er anscheinend nicht genug ‚naturverbunden’ war in einem Land, in dem – wie Robert Walser feststellte – „alles Natur ist“3 und in dem sie eine zentrale, heilbringende und oft beruhigende Funktion in literarischen Texten hat.4 In Wahrheit wurde in diesem introspektiven Roman die Beziehung zur Natur betont, da letztere die Funktion hätte, das Leiden der jungen Protagonistin zu lindern: „Nur die Natur, der barmherzige Hügel Bruderholz, vermag sie zu trösten“. Dieser Satz ist auch in einer kürzlich erschienenen Rezension zu lesen, die der Herausgeber der Edition 2018 des Th. Gut Verlags, Charles Linsmayer, veröffentlicht hat.5 Auch Silvia Camatta, die das Werk der Schweizer Schriftstellerin ausführlich analysiert hat, stellt fest, dass es an Naturverbundenheit sicherlich nicht mangelt, wenn man an die langen Passagen des Romans denkt, die den Landschaftsbeschreibungen gewidmet sind. Ebenso spricht dafür, dass das Vorbild Gotthelf von Lore Berger geehrt wird, die ihn zu einem von Esther gelesenen Autor und zu ihrer Inspirationsquelle für eine Kurzgeschichte macht6. Vielleicht ist diese Inspiration für die Kritiker irreführend: Die intertextuelle Verwebung mit dem, was laut Keller von vielen als „Kopisten der Natur“7 bezeichnet wird, in dem das Leben Natur ist und die Natur immer schön und erfüllend erscheint, kann den Eindruck erwecken, dass für die Schriftstellerin die natürliche Umgebung zumindest tröstlich ist. Das ist nicht der Fall – wie noch zu zeigen sein wird – aber es steht fest, dass die Natur wie in Goethes Werther ein Ort ist, an dem sich die Seele frei ausdrücken kann und das Naturelement zum Spiegel der aufgewühlten Innerlichkeit der Protagonistin wird, auch wenn sie es nicht geschafft hat, „wie Werther […] alledem ein Ende zu setzen“.8 So drückt sich Lore Berger (nicht Esther!) in einer vermutlich 1939 datierten Notiz in ihrem teilweise unveröffentlichten Tagebuch eines unbedeutenden Menschen aus, aber in unserem Fall ist die Gleichsetzung der historische Autorin mit der von ihr in Der barmherzige Hügel geschaffenen Figur nicht abwegig.9 Unwiderruflich erscheint die Entscheidung von Goethes Protagonisten, der sich sogar von der Güte der Natur, von ihren rettenden Fähigkeiten täuschen ließ; eine langsame Euthanasie ist hingegen der Tod von Esther, die sofort die Gewissheit hat, dass im Leben nichts und niemand gerettet wird, die Natur kann nur die Hässlichkeit des Daseins begleiten, der Körper kann wie eine Blume verwelken, wie ein von atmosphärischen Ereignissen getroffener Ast abbrechen.

2. Zielsetzung

Ein Text ist – so stellt Mario Lavagett10 fest – wie ein großes Haus mit vielen Zimmern: an jeder Tür steckt ein Schlüssel, aber es ist nicht der richtige. Man muss über das Offensichtliche, das Scheinbare hinausgehen. Man muss innehalten und zuhören, was im Raum gesagt wird. Im Fall von Lore Berger muss man sich vom Bewusstseinsstrom der Protagonistin treiben lassen. Nach wenigen Seiten befindet man sich inmitten eines dichten Netzes von Bezügen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, dieses Netzwerk in einigen Facetten zu erfassen. Dazu gehört in erster Linie die Erforschung der Bedeutung der zahlreichen Pflanzen und Blumen, die den Text wie ein Substrat durchziehen. Sie stehen nicht für sich selber, sondern verweisen von Anfang an auf Tod und Jenseits, der zentralen Dimensionen dieses Romans.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen auch die Titel und Untertitel, sie nehmen zentrale Aspekte des Textes vorweg, sie fungieren als Schwelle, als Bereich an der Grenze zwischen dem Inneren (dem Text) und dem Äußeren (dem Diskurs (dem Diskurs über den Text den Text). Der Begriff der Schwelle lässt sich auch auf die Protagonistin des Romans anwenden: Die Grenze ist zu jedem einzelnen Moment im Leben von Esther inhärent. Ihre Existenz wird als ein Dasein am Rande konfiguriert.

3. Deutung des Titels im biblischen Kontext

Tröstungen kann die Natur nicht viel bieten, wenn man bedenkt, dass alles in diesem Roman nach Tod riecht, nicht weniger als in Thomas Manns Der Tod in Venedig, und zwar bereits der Titel: dieser barmherzige Hügel, „ein wirklicher und zugleich symbolischer Ort“11, scheint mit dem bekanntesten der sieben Bußpsalmen übereinzustimmen, der unter dem Namen Miserere12 bekannt ist, der in Begräbnisriten intoniert wird und dessen erster Vers lautet: „Miserere mei, Deus, secundum magnam misericordiam tuam“. Barmherzigkeit ist eine moralische Tugend, die von der christlichen Ethik hoch geschätzt wird, und ist eine Einstellung, die aus dem Mitgefühl für das Elend anderer entsteht:13 Mitgefühl oder Verständnis für ein gemeinsames Leben, oder besser gesagt, für ein nicht gemeinsames Leben. Tatsächlich findet man in diesem Werk das Verständnis – wenn auch nicht das Mitteilen – der Protagonistin für das moralische und geistige Elend der Menschen, das Verständnis – und das Teilen eines Schicksals – für das, was die Natur erleiden muss und wovor sie nicht gerettet werden kann.

„Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ heißt es in Matthäus 5,7 – und dies scheint die Grundlage von Lore Bergers Gedanken zu sein: misereor – ich erbarme mich14 – und werde Barmherzigkeit erfahren. Es gibt keine Alternative, das menschliche Schicksal ist vorgezeichnet, nichts und niemand kann retten, nichts und niemand wird gerettet werden. Es sollte außerdem nicht vergessen werden, dass im Hebräischen das Wort für „Barmherzigkeit“, hesedi15, die Verbindung zwischen zwei Teilen und die daraus resultierende Solidarität bezeichnet. Im Falle der Erzählung scheint es die Verbindung zwischen der Protagonistin Esther – Lore Bergers Alter Ego – und der Natur zu bezeichnen, denn beide sind unterwürfig und unfähig, gegen die Anmaßung des Menschen zu rebellieren.

Der Untertitel, eine eine Geschichte gegen Thomas, bietet uns stattdessen den unmittelbarsten Leseschlüssel, um diese Geschichte als triviale Lovestory einer allzu sensiblen jungen Frau gelten zu lassen, die aus Liebe sogar krank wird: „Für lange Zeit, Thomas Reinhard, warst du der verbotene, verpönte Mittelpunkt meines Lebens“.16 In Wirklichkeit dient diese Figur, rein erzählerisch gesehen, nur als Auslöser für Esthers Schreiben, als endgültige Erkenntnis, dass sie – aber auch ihre erste Liebe – nicht für jenes Glück geschaffen sind, das die Existenz erträglich macht und die Erkenntnis, dass ihre Begegnung ein Glück war, das in den Ruin führte.17

4. Symbolgehalt der Pflanzen: Ein botanischer Streifzug durch das Werk

Alles riecht, wie gesagt, von Anfang an nach Tod: „Meine Geschichte ist nicht lang und ihr Ende schon am Anfang vorauszusehen“ (DBH, 10), so steht es bereits im ersten Teil, der den Titel „an Stelle eines Vorwortes“ trägt; und man darf außerdem nicht glauben, dass es sich um die außergewöhnliche Geschichte einer außergewöhnlichen Person handelt. Nein, „ich bin irgend jemand“ (DBH, 9), erklärt die Protagonistin sofort. Zumindest möchte sie als ein ganz normaler Mensch betrachtet werden; sie möchte keine besonderen Erwartungen beim Leser wecken. Auch hier kann man eine intertextuelle Verbindung vermuten, und zwar mit Robert Walsers Jakob von Gunten, der beabsichtigte „eine reizende, kugelrunde Null“18 zu werden, weiter nichts.

Schon die erste Beschreibung der Landschaft spricht nicht von üppigem Grün oder blühenden Wiesen, sondern suggeriert die Idee des Ablebens mit einem Zersetzungsbild: „Das Gras riecht scharf an den Wegrändern, das dürre, vertrocknete, erfrorene Gras des letzten Sommers, als sollte bald Frühling sein.“ (DBH, 15) Es ist nicht mehr Sommer und der Frühling ist noch weit, es gibt kein blühendes Leben mehr. Das wird eine kurze Geschichte sein, sagt Esther, als wolle sie den Leser nicht zu sehr stören: „Du sollst mir nur ein paar Stunden zuhören […] und du sollst mit mir ein paar Schritte über den großen Hügel tun an einem Abend voll Wolken und Blumen.“ (DBH, 10) Die Wolken sind keine Vorahnung günstiger Ereignisse; die Blumen scheinen es vielleicht zu sein, aber nicht in diesem Fall: Der Blumenhinweis kommt in der Tat nur vor, um einen Interpretationsschlüssel anzubieten, der den Leser auf diesem Weg zu dem bereits angekündigten Tod begleitet. Das Werk kann in der Tat floriographisch interpretiert werden, und zwar durch die Sprache der Blumen: Ab dem ersten Kapitel Die Erinnerung Turm und Hügel erwähnt Esther Blumen und Pflanzen, denen wir dank der Floriographie eine genaue Bedeutung zuordnen können19. Sie dient in diesem Werk, wie man sehen wird, zumeist dazu, das unheilvolle Schicksal des jungen Mädchens hervorzuheben und den Leser auf das vorhersehbare und ohnehin schon durchschaubare Endziel hinzuweisen. Eigentlich weist schon der Name der Protagonistin auf diesem Interpretationsschlüssel hin: In der Bibel, genauer: im Buch Esther, erhielt das jüdische Mädchen den Namen Esther erst, als sie den Harem des Königs betrat; ursprünglich hieß sie Adassa (oder Hadasah), ein jüdischer Name, der „Myrte“ bedeutet.20 Diese Pflanze hat eine weitere traurige Bedeutung; im antiken Griechenland wurde zum Beispiel erzählt, dass Dionysos, als er in den Hades hinabstieg, um seine Mutter Semele zu befreien, dafür eine Myrtenpflanze hinterlassen musste. Seitdem repräsentiert die Pflanze das Leben nach dem Tod und die Toten. In den Zaubertränken des alten Rom wurde Myrte darüber hinaus dazu verwendet, die Toten zu besänftigen, bevor oder nachdem sie heraufbeschworen worden waren. Die Idee des Todes ist bei Lore Berger nicht nur im Titel, sondern auch im Eigennamen der Protagonistin enthalten.

Der Leser muss daher „nur ein paar Schritte“ tun, um zu einem von Anfang an vorhersehbaren Schluss zu kommen; ein paar Schritte, ausgehend von dem kleinen Garten der Villa, in der die Hauptfigur wohnt und wo eine Sumpfbirke wächst, eine Pflanze, die ein Symbol für Reinheit und Keuschheit – Esthers Reinheit und Keuschheit – ist und als Beschützerin und geistige Führerin jedes neuen körperlichen und geistigen Aufbruchs gilt.21 Es ist der Anfang des Weges, der zum Tod der Protagonistin führt, aber dieser Prozess muss dennoch als ein neuer Aufbruch gesehen werden. Die Spezifikation „sumpfig“ für diesen Pflanzentyp ist wichtig: Der Sumpf erinnert an die Lebensgefahr für die junge Protagonistin und die Unmöglichkeit, klar zu sehen, um ihre Rettung zu sichern. Außerdem besteht er aus einer Vegetation, die, um zu überleben, in der Lage sein muss, sich den Bedingungen, der hohen Umgebungsfeuchtigkeit und dem Aufsaugen des Bodens anzupassen. In gleicher Weise kann Esther nur überleben, wenn sie in der Lage ist, sich an ihre Umgebung anzupassen. Sie wird sich an die vielen dunklen, kühlen, abweisend-vornehmen Häuser des Stadtzentrums anpassen müssen. (vgl. DBH, 18) Diese gehören der sogenannten besseren Basler Gesellschaft, die das Böse und die Heuchelei repräsentiert. Ähnlich wie bei Rilke – einer, der in den letzten Jahren seines Lebens die Behandlung, der er hätte unterzogen werden sollen, mehrmals unterbrochen hat – und bei George – der, besonders mit Stimmen im Strom, die Verzweiflung derjenigen, die dem Selbstmord nahe sind, darstellt – gelingt es nicht, die von zerstörerischen Zügen zerrissene Seele Esthers zu retten, die den beiden berühmten Schriftstellern so ähnlich ist. An Orten, die von verdeckten Lügen, von bösartiger Heuchelei bewohnt sind, wird Esthers Reinheit das große Missverständnis sein; sie, die auf den Tod wartet, wird gezwungen sein, als passives Wesen zu leben, als einfache Zeugin dessen, was in der Welt geschieht. Die Heuchelei der Hohen Gesellschaft durchdringt alles, selbst die Intimität der Räume um das Haus herum, und bis sie entdeckt wird, kann sie die Illusion erzeugen, in der bestmöglichen Umgebung zu leben: „wir waren geblendet von der Lichtfülle, die der Hügel über uns goß“ (über uns goß“ (ebd.)) – tatsächlich von den Illusionen und der scheinbaren Güte der reichen Einwohner Basels geblendet –, „geblendet von seinen Blumen, vernarrt in jeden blühenden Strauch, in jeden Maikäfer, in jede Wolke.“ (ebd.) Nicht einmal die Natur kann uns retten, sie ist eine mit der Scheinheiligkeit der Hohen Gesellschaft mitverschuldete, korrumpierte Natur, die, um zu überleben, domestiziert wurde und sich mit den für sie reservierten Räumen begnügt hat. Am Anfang, als Esthers Familie auf den Hügel kam, um dort zu leben, war die Situation anders, „damals gab es hier oben noch kein Primarschulhaus, kein Studio, keine Promenade, keinen Konsumladen.“ (ebd.) Die Landschaft hat sich im Laufe der Zeit verändert, die Natur hat sich mit dem für sie reservierten Raum ‚begnügt‘ und es scheint, dass sich eine gewisse Bitterkeit in den Worten der jungen Frau erahnen lässt, die es nicht gewagt hat, sich aufzulehnen, wie es anderswo oft der Fall ist, z.B. durch Erdbeben oder andere atmosphärische Ereignisse. Darüber hinaus lesen wir „seit je stand der rote Mohn an heißen Sommertagen zitternd in den Kornfeldern, blauer Rittersporn nickte steif aus den Gärten“ (“ (ebd. Her Hervorhebung: MB): Der Mohn symbolisiert Einfachheit, aber auch Trost22, vermutlich den momentanen Trost für das bereits vorgezeichnete Schicksal der Hauptfigur, während der Rittersporn einen melancholischen Charme ohne Raum und Zeit versinnbildlicht23, der jenen von Esther widerspiegelt. Rittersporn ist eine Pflanzengattung aus der Familie der Ranunculaceae. Ranunculaceae bedeutet auf Lateinisch „kleiner Frosch“ und diese Blume wird so genannt, weil sie sumpfige und feuchte Orte bevorzugt, die natürliche Lebensräume von Fröschen sind. Und dann ist da wieder der Ruf nach dem Sumpf, nach dem stehenden und trüben Wasser, nach den Gefahren des Lebens, die sich auch hinter der scheinbaren Schönheit verbergen, nach den leuchtenden Farben der Butterblumen. Alles stellt eine Gefahr dar, alles ist in einen Mechanismus der Heuchelei und des Scheins gut eingefügt.

Die Beschreibung der Umwelt geht weiter mit den „Pappeln am Rande des Hügels“ (DBH, 18-19): Der griechischen Mythologie zufolge ist die Pappel das Symbol für die Grenze zwischen der Erde und dem Königreich der Unterwelt24. Diese Pappeln „sahen über die Stadt wie heute“ (DBH, 19), also symbolisch schon in Richtung des Reichs der Unterwelt, „über das Rathaus, die Münstertürme, den Bahnhof“ (DBH, 19), also jenseits all dessen, was künstlich ist. Jenseits vom Menschen, der die Natur zerstört und bebaut hat, die nie rebellierte, nie ein ‚Blatt bewegte‘ und damit von menschlichem Tun verschlungen wurde. Der Hügel erscheint somit fast als der Ort schlechthin, an dem der Mensch der Natur Schaden zufügt: „Die Feldwege riechen nach Kraut und die Asphaltstraßen nach Teer.“ (DBH, 19) Der Hügel widersteht an den Rändern einigen Blitzen der Natur, aber grundlegend scheint die koordinierende Konjunktion „und“ – an Stelle der adversativen Konjunktion „aber“ – zu stehen, um die Hinzufügung des anderen Elements, zumindest auf gleicher Ebene, zu kennzeichnen. Weitere negative Vorzeichen tauchen auf: „am Horizont […] bauschige Gewitterköpfe, silbergrau oder schwefelgelb, wachsen und türmen sich am Himmel.“ (DBH, 19) Wird bald etwas geschehen? Die Wolken am Horizont werden nicht als schwarz beschrieben, sondern zum einen als grau, die neutrale Farbe schlechthin, eine Mischung aus Schwarz und Weiß, die hier auf die Natur-Zement-Verschmelzung trifft, die den Hügel charakterisiert. Zum anderen sind die Wolken schwefelgelb. In der Bibel hat Schwefel eine negative Konnotation, man denke z.B. an den strafenden Schwefelregen auf Sodom und Gomorrha. Im Allgemeinen wird der Teufel mit dem Geruch von Schwefel in Verbindung gebracht. Das Böse betrifft somit die Geruchssphäre. In Lore Bergers Beschreibung wird dagegen von „schwefelgelb“ gesprochen und es geht weniger um Gerüche als vielmehr um das, was wir sehen. Diese düstere Atmosphäre wird durch gelbe Licht, bzw. mit strahlender Beleuchtung gebrochen. Die Tonalität scheint die Bedrohung zu mildern. Ebenso wird die Bedrohung gemildert, wenn man bedenkt, dass Schwefel schon immer als Pestizid für Pflanzen verwendet wurde. Vielleicht stellen diese Wolken am Horizont daher keine so große Bedrohung dar, wie es auf den ersten Blick scheint, und in der Tat können sie einen Regen verdecken, der sogar der domestizierten Natur von Esthers Umwelt zuträglich ist.

„Schön ist er, der Hügel, denn um all diese Dinge kümmert er sich nicht“ (DBH, 20) genauso, wie die Schweiz schön ist, die sich ebenso wenig um die Angelegenheiten der Welt um sie herum kümmert. Mit dieser sibyllinischen Phrase scheint Lore Bergers Beziehung zu ihrer Heimat ebenso ambivalent wie jene vieler Schweizer Intellektueller zu liegen: Der schöne Hügel, dem es egal ist, was um ihn herum passiert, ist dasselbe goldene Gefängnis, mit dem Dürrenmatt die Schweiz identifiziert, ein Gefängnis, in das die Schweizer selbst freiwillig Zuflucht genommen haben, weil sie sich nur dort vor Aggressionen geschützt fühlen, 25 wo sie „in einer hellen, nüchternen, einfachen Welt“ (DBH, 35) aufwachsen und „anständig erzogen [wurden] – vielleicht zu anständig“ (ebd.), ein Land, in dem sie anscheinend „alle Vorzüge“ (ebd.) haben. Dürrenmatt präzisiert dann: „Die Schweizer fühlen sich frei, freier als alle andern Menschen, frei als Gefangene im Gefängnis ihrer Neutralität“.26 Die Neutralität, so scheint es, ist das Problem; genau jener schweizerische Gleichmut, der gleichbedeutend mit Freiheit ist. Mit diesem Gleichmut werden auch Thomas Mann, Musil und Silone rezipiert – im Wesentlichen die Dichter, deren Gedichte „mit den andern zugleich“ (DBH, 51) gelesen wurden und „mit der nämlichen Schärfe oder Sachlichkeit wie die übrigen“ (ebd.) kritisiert wurden, mit denen aber kein Schweizer auch nur einen einzigen Moment gedacht hätte, sich „solidarisch zu fühlen“. (ebd.) Auch der Hügel, ein mitfühlender Zuschauer des Leidens mit seinem barmherzigen Wesen, nimmt eine neutrale Haltung ein. Neutralität hat hier immer eine ambivalente Konnotation: Sie macht frei, weil man sicher ist, nicht angegriffen und in die Konflikte der übrigen Welt verwickelt zu werden, aber gleichzeitig macht sie Gefangene, weil sie die Handlungsfreiheit, die Möglichkeit, aktiv das Feld zu besetzen und sogar zu rebellieren, einschränkt. Keine Rebellion, der Hügel „liegt und läßt die Gärten wachsen, wartet das Gedeihen der Frucht ab und empfängt sie auf seiner Erde, wenn sie fällt“ (DBH, 20. Hervorhebung: MB). Alles geschieht nach einem regelmäßigen Prozess, aber auch passiv, ohne Möglichkeit – aber auch ohne Willen – diesen offensichtlichen Kurs zu ändern.

Die Beschreibung des Raumes um Esther herum setzt sich wie folgt fort: „Die schlanken Birken strecken sich zum Licht, ein Hohn und verächtlicher Spott den dürren, langweiligen, langsamen Akazien.“ ((ebd.) Die) Die Birke, Symbol – wie gesagt – jedes Neubeginns, tendiert nach oben, in Richtung des Jenseits, das für die Protagonistin in der Tat immer ein Neuanfang sein wird, und verspottet die Akazie, die die Verbindung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren symbolisiert27. Die Birke und die Akazie sind hier personifiziert. Die Beschreibung der Akazie – dürr, langsam, langweilig – scheint vom Standpunkt der Birke aus geschildert zu sein. Letztere verspottet die Akazie und verhöhnt mit dieser Darstellung ihre sprichwörtliche Eleganz.

Die Akazie scheint dort zu stehen, um zu veranschaulichen, dass ohne eine Verbindung zwischen Mensch und Natur das Leben nicht möglich ist, so wie wahre Poesie nicht möglich ist, im weiteren Sinne die wahre literarische Kunst: Wahre, großartige Poesie entspringt dem Herzen des Menschen, der eine starke und unvermittelte Beziehung zur Natur hat; „pochi possono esser grandi (e nelle arti e nella poesia forse nessuno)“ – so Leopardi im Zibaldone – „se non sono dominati dalle illusioni“.28 Die wahre Poesie, die aus dem Leben entspringt, also aus der Mensch-Natur-Beziehung, muss für die romantische Akazie Illusionen schaffen, denn sie ist die Kraft, die das Leben erhält und es wunderbar macht. Der Akazie steht jedoch die Konkretheit der Birke gegenüber: Die Reflexion überwiegt über die Phantasie, die Vernunft über die Illusionen und schaltet sie aus. Esther kann sich nicht bedingungslos Illusionen hingeben, und vielleicht auch aus diesem Grund weiß und kann sie nicht leben: „Die Äste der Birke vor meinem Fenster, fein und feiner sich verzweigend, bilden dem Blick, der weit sehen möchte, ein lockendes Netz, unentrinnbar“ (DBH, 22); aber gleichzeitig – in den vielen Widersprüchen, die in Esthers Denken auftauchen, wie es bei einer jungen Frau in diesem Alter selbstverständlich ist – wird sie später erkennen, dass „man die Phantasie im Menschen, sein eigenstes Gut, nicht töten sollte.“ (DBH, 41) Aber „im Menschen“ im Allgemeinen, nicht notwendigerweise in einem so missverstandenen Wesen wie sie, die unfähig und nicht in der Lage ist, wie alle anderen in der Welt zu bleiben, bis hin zum Eingeständnis: „Ich selbst habe mich doch zu töten versucht und ich weiß wohl, daß ich das nur deshalb tat, weil ich mich vergeblich nach dem Leben gesehnt hatte.“ (DBH, 55) Vergeblich, denn ihr Schicksal ist auf jeden Fall vorgezeichnet; „der Tod mag ein weißes oder ein schwarzes Roß reiten, Samok, den Pegasus oder gar ein literarisches Steckenpferd reitet er auf keinen Fall“ (ebd.), sagt sie. Der Tod kann auf einem schwarzen oder weißen Pferd daherkommen, einer bösen Macht, Träger der Pest, wie die Apokalypse lehrt, sicherlich nicht auf Pegasus, der den höchsten Teil des Himmels anstrebt und sich sogar in eine Wolke aus funkelnden Sternen verwandelt, oder auf einem Schaukelpferd, vielleicht ein Hinweis auf den Dadaismus, der wegen der Ablehnung jeder Form von Rationalität und von bereits geschriebenen Regeln als „abwegig“ und „erfolglos“ (DBH, 54) definiert worden war.

Die bereits erwähnte Zweideutigkeit wird durch die Glockenblumen, die für den Sommer läuten (vgl. DBH, 20), weitergeführt: Einerseits gilt die Blauglocke als Symbol der Hoffnung und des Durchhaltevermögens, weil sie sehr widerstandsfähig ist, andererseits ist sie eine Blume, die auch „Totenglocke“ genannt wird, und ihr Läuten zu hören – wie es unter anderem durch dieses ‚Sommerläuten‘ suggeriert wird, das Esther hörte – ist, gemäß einiger Legenden, ein Vorzeichen des bevorstehenden Todes29.

Aber warum ist die perfekte Mensch-Natur-Verbindung nicht möglich? Wahrscheinlich, weil die Kultur die Natur längst verdrängt hat: „Es muß hier oben Kehricht- und Milchwagen, Hausierer und andere Mühsal geben.“ (DBH, 21) Dennoch, „der große Hügel ist ein Paradies.“ (ebd.) Aber für wen? Immer für jene Dürrenmatt-Gefangenen, die sich im Goldenen Gefängnis der Schweiz freuen, für diese sündlosen konföderierten Seelen, die im Empireo, in der Candida Rosa, wohnen und die in der Verfilmung von Beat Kuert30 mit Masken dargestellt sind. Nicht für Esther, nicht für einen modernen Pier della Vigna, den Lore Berger, wie Dante, zwischen den Bäumen eines Waldes einsperrt: „Still hängt oder erschießt sich von Zeit zu Zeit ein geschmackvoller Selbstmörder in einem lauschigen Wäldchen oder lackduftenden gelben Tramhäuschen.“ (ebd.) Die Ironie, mit der hier das Schweizer Paradies und die unverzeihliche Sünde einander gegenübergestellt werden, erinnert sehr an den Stil von Robert Walsers Fritz Kochers Aufsätze.. Stil und Sprache sind hier nur scheinbar banal und naiv. In der Tat: Der Autor von Biel lässt in die Feder des Schuljungen Synästhesien einfließen, die für einen Schüler ungewöhnlich sind. In vergleichbarer Weise bereichert die Schriftstellerin mit Personifikationen und Ähnlichem Esthers langen Briefes („der Wind brüllt eine neue Melodie“, DBH, 22; „das Heimweh hockt über dem Land wie ein müdes Kind mit verheulten Augen“, DBH, 38).

Im weiteren Verlauf der Erzählung befindet sich die Protagonistin noch im Diesseits, obwohl sie für das Jenseits bestimmt ist: „Es scheint, als stände auf dem Grasbord gegenüber der Kaffeehalle eine dunkle, starre Gestalt. Wenn das der Tod wäre – und ich fürchte mich wieder und gehe fort.“ (DBH, 25) Neben der schwarzen Figur sind Mohnblumen, das Symbol – wie bereits erwähnt – der Einfachheit, des Trostes – ein Gefühl, das der Barmherzigkeit des Titels so nahe steht –, des schlafenden Stolzes, aber auch – vor allem – Blumen, die den Tod begleiten. Einige davon sind sogar monokarpisch, sie sterben nach der Blüte, evozieren also genau das Schicksal der Protagonistin. Man kann sich Esther auf einer Schwelle vorstellen, immer verängstigt von der Ahnung, sie zu überqueren, immer enttäuscht und gelangweilt („ich sehe, in einer plötzlichen und ziemlich schmerzhaften Vision, wie ich mich seit meiner Geburt verzweifelt gegen die Einförmigkeit und Langeweile meines Lebens gewehrt habe, gegen die nicht schlechte, aber unterernährte Moral meiner Erziehung“, DBH, 24), aber noch nicht bereit, weiter zu gehen. Die Schwelle ist, wie Andrea Gentile schreibt,31 sowohl „Grenze“ als auch „Durchgang“, sie stellt ein Konzept dar, das gleichzeitig abgrenzt und öffnet. Die Schwelle benötigt keinen vordefinierten Raum. Sie braucht keine klaren, absoluten, festgelegten Grenzen: Die Räume, die sie verbindet, sind Räume, die sie öffnet. Die Schwelle impliziert eine Dynamik, eine Überschreitung, zu der Esther in diesem Fall noch nicht bereit ist. Und so ist die Schwelle dieses Seins in der Mitte, die sich sowohl vom Ausgangs- als auch vom Zielort unterscheidet, der sich sowohl von der Abfahrt als auch von der Ankunft unterscheidet: Die verlassene Küste liegt hinter uns, und die, auf die wir zusteuern, ist noch immer nicht deutlich sichtbar. An der Schwelle findet eine Veränderung statt, eine dynamische Transformation, die ein Vorher und ein Nachher impliziert, insbesondere ein Diesseits und ein Jenseits. Bei der Begegnung mit der Schwelle stehen drei Aktionen zur Auswahl: Stehen bleiben, indem man sich entscheidet, die Schwelle nicht zu überschreiten; vorwärts gehen, indem man sich dafür entscheidet, sie zu überschreiten; oder man kann sich für eine „Nicht-Wahl“ entscheiden: Warten. Und das tut Esther zu diesem Zeitpunkt. Man kann bereits den Geruch des Todes riechen:

Hast du je als Kind mit neugierigen Fingern grob die verschlossene Knospenhülle des Mohnes gespalten? Hast du den scharfen Geruch der Pflanze in deiner Nase gespürt? […] Warum wacht denn kein Gott, daß alles an der Sonne reifen kann und langsam wird, mit dem Lachen und Weinen des Himmels erwächst, stark und groß ist durch seine in Ruhe geöffnete Knospe? (DBH, 27)

Das Echo auf Lore Bergers Erziehung, die Silvia Camatta als „streng unreligiös“32 definiert, tritt hier deutlich hervor; die Protagonistin Esther – die man so schwer von ihrer Schöpferin trennen kann – leidet unter derselben Erziehung, sie scheint keinen Glauben an Gott zu haben, aber im Gegensatz zu dem, was vielen Atheisten gemeinhin eigen ist, ist sie nicht einmal mit einem unerschütterlichen Glauben an den Menschen und an sich selbst, an rationale Tugenden, ausgestattet. Gleichzeitig scheint sie mit einer immensen Reserve an Zynismus ausgestattet zu sein, der lebenslang anhält. Sie ist fest überzeugt, dass der Mensch die Fähigkeit hat, jede Last zu tragen, die die Zeit ihm auferlegt, ohne um Hilfe oder Unterstützung für etwas bitten zu müssen, das sich nicht rational erklären lässt. Sie ist wehrlos und wartet auf die schrecklichen Schicksalsschläge. Aus ihrer Sicht gehören diese zu dem unendlichen Spiel der Möglichkeiten, denen sie ausgesetzt ist, seit sie auf die Welt kam. Wenn es einen Gott gäbe, würde er ihr erlauben, aufzublühen und ruhig zu leben, wie sie sagt. Und dann lebt sie ein Leben ohne eine bestimmte Perspektive, ohne ein anderes Ziel als den Tod. Im Leben geht Lore Berger jedoch über die atheistische Erziehung hinaus und nähert sich dem Protestantismus an, und ebenso nimmt Esther in ihrem Roman „die breite Straße unseren Hügel hinauf wie eine Schlange aus Stein.“ (DBH, 36) Diese Schlange ist kein einfaches Reptil, sondern eine steinerne Schlange. Eine Schlange, die aus dem Material besteht, das das Urwesen darstellt, das Prinzip der Menschheit, ihren Archetyp, aber auch die Energie, die das verwandelt, was Kraft ist und in das sich der Mensch wiederum verwandeln kann, nämlich in das Transzendente, was jenseits der Schwelle liegt. Es ist etwas, das dem Ouroboros näher kommt, der Schlange, die sich in den Schwanz beißt und einen Kreis ohne Anfang und Ende bildet, der die zyklische Natur der Dinge – sogar des Leidens – repräsentiert, hier als Routine und auch als Unendlichkeit und Ewigkeit verstanden. Damit ist jedes einzelne Element repräsentiert, das in die Gesamtheit des Ganzen übergeht. Wir nähern uns dem von Heidegger ausgearbeiteten Konzept von Geviert33, um die ursprüngliche Einheit des Zusammenlebens zu verstehen, worin Himmel und Erde, das Göttliche und das Sterbliche, eins sind. Der Aufenthalt der Sterblichen auf der Erde beinhaltet notwendigerweise ihre „gegensätzliche Zusammensetzung“ mit dem „Aufenthalt“ der Göttlichen im Himmel. Erde und Himmel, das Göttliche und das Sterbliche, beziehen sich gegenseitig in jene komplexe und ursprüngliche Einheit ein, die Zugehörigkeit ist. Sterbliche befinden sich im Geviert, während sie verweilen. Aber die grundlegende Eigenschaft des Wohnens, so Heidegger, ist die Fürsorge, und dieser grundlegende Aspekt fehlt bei Esther; daher ist „Wohnen“, das nichts anderes ist als „Sein-Leben“, unmöglich.

Auf einer Seite der breiten Straße, die den Hügel hinaufführt, stehen Maulbeerbäume. Mit diesem Baum, den Plinius der Ältere sapientissima arborum, den weisesten unter den Bäumen, nannte, verbindet man im Allgemeinen die Idee der Vorsicht34 (jene Klugheit, die Esther immer noch zurückhält und die sie nicht dazu bringt, die Schwelle zu überqueren?), weil er geduldig darauf wartet, dass die späteren Fröste abgewendet werden, die das Laub fallen lassen. Darüber hinaus spielt sich zu Füßen eines Maulbeerbaums, wie Ovid in seinen Metamorphosen erzählt, das Liebesdrama von Thisbe und Pyramus ab, zwei jungen Babyloniern, die wahnsinnig verliebt, aber von ihren jeweiligen Familien bekämpft werden, ausgebreitet, so wie entlang der Maulbeerbaumallee in Basel das sentimentale Drama von Esthers Liebe zu Thomas geschildert wird. Weiter liegen vor den Maulbeerbäumen, immer noch auf der Schwelle, „die bereits erwähnten Akazien“ (DBH, 36), diese Verbindung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zusätzlich zu den unauslöschlichen Zeichen des Durchgangs und der menschlichen Arroganz. Es sind „eine steinerne Stützmauer, zeitweilig Häuser, ein steinerner Treppenaufgang, für Ungeduldige gebaut“ (ebd.), also für diejenigen, die ungeduldig sind, die Schwelle zu überschreiten.

Die Elemente, die als Zeichen ihres bereits festgeschriebenen Schicksals dienen können, werden von Esther ängstlich gehütet: „Ich wollte nicht, daß Sabine Schwarz unsere Birke sehen sollte.“ (ebd.) Vermutlich nicht, weil sie irgendeine Bedeutung erfassen konnte, sondern eher wegen eines Mangels an Einfühlungsvermögen. Schließlich kann sich die Protagonistin nicht wirklich in eine Gruppe integrieren, die sie sarkastisch für ihren weit verbreiteten Konformismus, Neigung zu Tratsch und leerem Geschwätz verachtet.35 Esther möchte ihre Welt vor diesem sinnlosen Gerede bewahren. Auf jeden Fall würde niemand sie „zartes Pflänzchen“ (DBH, 69), wie Tante Sybill sie nennt, verstehen; alle würden weiterhin „die Anemonen preisen.“ (vgl. DBH, 40) Diese Blumen des Windes, wie sie auf eine bedeutsame Weise genannt werden, stellen das Vergängliche dar, und in der Tat nennt Esther sie, als sie von ihrer Redakteurin spricht, die ihr geschrieben hatte, um sie über die Ablehnung und Rückgabe ihrer Arbeit zu informieren. Man konnte diese nicht veröffentlichen, diese pessimistische Grundstimmung, die sie kennzeichnet, konnte sicherlich nicht nach dem Geschmack der Leser sein. Denn Leser brauchten frische, lebendige Perspektiven – und lebendig in und um Esther herum gibt es nichts – „aus dem bunten Leben gegriffen, womöglich immer mit etwas Moral – das Publikum will Gemeinplätze hören, will das wieder hören, was es selbst denkt, will Geschichten lesen, von denen es glaubt, daß sie bei einiger Chance auch in seinem Leben vorkommen könnten, Geschichten, die es plötzlich – wer weiß? – auch selbst schreiben könnte…“. (ebd.) Verletzt in ihrem Stolz und immer wieder missverstanden, frönt die junge Frau dem Vergleich mit den vergänglichen Anemonen, die den Weg zu einem sofortigen, aber kurzlebigen Erfolg weisen. Was ist wichtig? Hic et nunc. Die unmögliche Formel für Esther.

Es muss nicht viel hinzugefügt werden, es ist nicht einmal notwendig, auf die raffinierte Symbolik zurückzugreifen, da alles klar zu sein scheint, die Protagonistin – und mit ihr der Leser – wird einfach darauf warten müssen, was von Anfang an klar ist. Die Fortsetzung der Geschichte ist eine langsame Qual: „Ich lag tagelang und sah in den wolkenlos blauen Himmel. Die Blumen rings um mich atmeten aus der wohlgepflegten Gartenerde. Ich vergaß beinahe, daß ich überhaupt lebte.“ (DBH, 48) Die Blumen scheinen sich von den Substanzen zu ernähren, die aus dem Untergrund kommen, sie scheinen sich von Esther zu ernähren, die, wie sie selbst zugibt, fast vergisst, dass sie lebt, sie ist schon wie tot und begraben, Dünger für jene kleine domestizierte Natur, die noch Platz findet.

Es ist alles so offensichtlich und eintönig, dass ein Eingriff von Esthers Bruder eingefügt wird, als ob er sich für diese Wiederholungen und den Mangel an Spannung entschuldigen und den Leser auffordern wollte, ein wenig mehr Geduld zu haben, so wie es die Protagonistin bereits zu Beginn gefordert hatte, um zum angekündigten Ende zu gelangen:

Ich sehe mich gewissermaßen gezwungen, auf ein paar Zeilen die Aufzeichnungen meiner Schwester unterbrechen. Einerseits möchte ich damit die Veröffentlichung einiger ziemlich monotoner Seiten, entstanden aus der egozentrischen Haltung der Kranken heraus, umgehen. (DBH, 118)

Es gibt noch Raum für einige Momente der Erleichterung und Illusion, die durch den „schwachduftenden Dolden“ (DBH, 130) dunkelvioletter Rosen36, die die Schönheit der Menschheit und die Liebe zum Leben repräsentieren, hervor schimmert („selbst eine so häßliche Frau wie ich, kann dann nicht umhin, sich in eine endlose, schöne Träumerei zu verlieren“, ebd.). Ebenso scheint die Begleitung und Zuneigung des Hundes Nitschewo in eine andere Richtung zu weisen. Doch sein russischer Name ruft kaum Illusionen hervor, da er „es macht nichts“ bedeutet. Deshalb kann nicht einmal das Tier etwas tun, um Esther zu retten. Ebenso wenig vermag dies die Natur, die sie auf ihren Spaziergängen antrifft: Brunnenkresse, die für ihre therapeutischen Eigenschaften bekannt ist, der Löwenzahn, der für Freiheit, Träume, Wünsche und eine sorglose Kindheit zusammen mit der Möglichkeit eines Neuanfangs steht37, und das Gänseblümchen, Symbol der Reinheit, Unschuld, Einfachheit und Bescheidenheit38.

Es bleibt zu wenig Raum für die Natur, um zu behaupten, dass sie Esther sogar retten kann; „es werden in der Nähe Häuser gebaut“, (DBH, 185) noch immer Häuser und eine vom Menschen gezähmte Natur, die nicht rebelliert hat und als Objekt in einem Museum erhalten wird, mit Besuchern, die ihre Schönheit in Gruppen mit dem Blick genießen können: „Die Straßenbahn fährt oben, an der großen Allee. Ich kann von meinem Standort aus sehen, daß die Köpfe der weiblichen Fahrgäste sich nach rechts drehen, um die Blütenpracht zu bewundern.“ (ebd.) Mit „von meinem Standort“ meint Esther die Spitze des Hügels; die Farben vor ihr verblassen und vermischen sich: „Im weichen Licht des Abends verschwimmt so viel an Schönheit und es verschwimmt viel Häßliches, manches vorübergehende Gesicht. Aber auch die Umrisse der Stadt werden unklar und rauchig verschleiert.“ (ebd.) Es ist an der Zeit, vom Leser und vor allem vom Leben Abschied zu nehmen:

Doch davon spreche ich nicht mehr angesichts dieses weiten, dämmerigen Landes, wo ich den Leser verlassen will – Ich erwarte nur noch den Stundenschlag. […] Dunst liegt über den langen Wegen. […] Keine Grenzen mehr, keine Enge. (DBH, 186)

Esther ist bereit, die Schwelle zu überschreiten: „Nur noch Horizonte, Wölbungen, Tiefen – dann auch das gelöscht und aufgelöst in Himmel und Erde –. Ist denn der Hügel nicht barmherzig?“ (ebd.)

Die Schlussfolgerung, die dieser Roman bietet, dürfte den Vorstellungen Spinozas nahe sein: Die perfekte Kenntnis der Dinge, ihr Verständnis sub specie aeternitatis, scheint möglich, weil Gott, die Natur und damit der Mensch eine Realität, drei Aspekte einer einzigen Substanz sind.39 Der gewöhnliche Mensch scheint eher ein Sohn der Philosophie von Descartes und Bacon zu sein, denn für ihn gilt: Wissen ist Macht und Glück kann aus der Wissenschaft, dem Fortschritt und daher aus der Herrschaft über die Natur geboren werden. Esther macht den Eindruck, als habe sie stattdessen verstanden, dass sich Glück, Glückseligkeit, die sich gut mit Barmherzigkeit verbindet, aus dem Besitz eines ewigen Guten ergibt. Barmherzigkeit wird nicht von einem einfachen Ideal oder einem ethischen Wert ausgelöst, der durch ein ausgewogenes ethisches Verhalten zu erreichen ist, sondern der durch die perfekte Kenntnis der Dinge, aus ihrer sub specie aeternitatis-Vision heraus, genau erreicht wird. Was den Menschen an der Glückseligkeit hindert, sind seine Unkenntnis der Natur sowie die falsche Überzeugung, dass sie beherrscht und besiegt werden muss. Wenn dieser Überzeugung gefolgt wird, gibt es keine Rettung für die Natur, die nicht rebelliert, und für diejenigen, die in perfekter Symbiose mit der Natur leben.

5. Schlussbemerkungen

Lore Berger zeigt mit ihrem einzigartigen Werk Der barmherzige Hügel eine Übereinstimmung mit dem, was wir heute als Ökofeminismus bezeichnen und was Greg Garrard mit dieser Definition zu umschreiben versucht: „Deep ecology identifies the anthropocentric dualism humanity/nature as the ultimate source of anti-ecological beliefs and practices, but ecofeminism also blames the androcentric dualism man/woman“.40 Neben dem anthropozentrischen Dualismus Mensch-Natur richtet der Ökofeminismus sein Augenmerk auch auf den androzentrischen Dualismus Mann-Frau. Dies lässt sich bereits im Untertitel von Lore Bergers Werk, Eine Geschichte gegen Thomas, erkennen, wobei die Präposition „gegen“ Widerstand bedeutet gegen das Individuum, aber auch, weiter gefasst, gegen die menschliche Rasse, gegen eine Kultur, die den Mann – heterosexuell, sollte hinzugefügt werden – über alles andere stellt. Wenn Frauen mit der Natur in Verbindung gebracht wurden, um beide Elemente zu verunglimpfen, kann man die patriarchalische hierarchische Ordnung angreifen, indem man die Begriffe umkehrt und die Natur verherrlicht.41

Die Ziele dieser Eine Geschichte gegen Thomas hängen von der jeweiligen Lesart ab. So kann zum einen die Umwelt zum anderen aber auch Emanzipation, Gleichberechtigung und Abschaffung der Hierarchie im Vordergrund stehen. Indem sie alternative Lesarten bietet, die man als protoökofeministisch definieren kann, möchte Lore Berger die dominante androzentrische und dualistische Kultur umstoßen, die eine scharfe Trennung zwischen Lebewesen mit Rechten und Lebewesen ohne Rechte zieht. In der hierarchischen Welt werden Frauen und bestimmte Lebewesen der Flora und Fauna als minderwertig betrachtet. Die Schweizer Schriftstellerin spricht ähnliche Themen an, die mehr als vierzig Jahre später die Eckpfeiler des Ökofeminismus sein sollten: Sie lädt uns ein, uns unserer Ursprünge, unserer Gegenwart und des Endes unserer Existenz bewusst zu werden. Dazu sei es notwendig, uns der Verbindung mit jedem einzelnen pflanzlichen, tierischen und menschlichen Leben, das eine Verbindung mit dem Planeten bildet, voll bewusst zu werden. Die Natur wird als still beschrieben – wie es Rachel Carson später in Silent Spring (1962), dem Keim der ‚bewussten‘ ökokritischen Bewegung, tat –, nur der Wind deutet gelegentlich ein Zischen an, aber im Grunde bleibt die Natur still, da der Mensch nicht mehr weiß, wie er auf seine Sprache hören soll. Erst wenn der Mensch anfängt – oder wieder anfängt – die Natur zu ‚fühlen‘ – wie Esther, die die Sprache der Blumen zu hören und zu interpretieren weiß – wird er fähig sein, zu handeln, um sie wirklich zu erhalten und sie nicht auf ein Objekt der musealen Beobachtung zu reduzieren.

Literaturverzeichnis

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  1. Unter dem Pseudonym Dictys Cretensis wurde im 4. Jahrhundert die Ephemeris belli Troiani veröffentlicht, ein lateinischer Roman über den trojanischen Krieg in sechs Büchern. Sie basiert auf einem griechischen Text aus dem ersten oder zweiten Jahrhundert.
  2. Vgl. Olmi, Roberto: L’ossessione della torre. In: Berger, Lore: La collina misericordiosa. Torino 2015, S. 203.
  3. Vgl. Walser, Robert: Geschwister Tanner. In: Das Gesamtwerk. Hrsg. von Jochen Greven, 12 Bde. Frankfurt a. Main 1978, Bd. 4, S. 50.
  4. Man denke in Bezug auf diesen letzten Aspekt an Walser selbst, aber auch an Erika Burkart, Franz Hohler oder auch an Corinna Bille und Maurice Zermatten.
  5. Die Rezension erschien auf 20 Minuten vom 10. Juli 2018 in http://www.linsmayer.ch/news/bergerbuch.php (Letzter Abruf: 26.09.2020).
  6. Vgl. Camatta, Silvia: Lo sciopero della fame di Lore Berger. Padova 2009, S. 165. An dieser Stelle sei Silvia Camatta für den fruchtbaren Meinungsaustausch gedankt.
  7. Keller, Gottfried: Gottfried Keller’s nachgelassene Schriften und Dichtungen. Hrsg. v. Jacob Baechtold. Berlin 1893, S. 155.
  8. Zit. nach: Linsmayer, Charles: Aber die Tage sind so grau und haben wenig Schönheit zu geben. Lore Berger, ihr Leben, ihre Zeit und ihr Roman. In: Berger, Lore: Der barmherzige Hügel. Zürich 1999, S. 241.
  9. Die Ähnlichkeiten zwischen der Autorin Lore Berger und der Protagonistin ihres Romans, Esther, sind bemerkenswert. Nichtsdestotrotz sind die Meinungen der Kritiker über die Möglichkeit, das Werk als autobiografisch zu definieren, widersprüchlich und werden von Silvia Camatta sehr treffend zusammengefasst (Vgl. Camatta, wie Anm. 5, S. 27-29). Charles Linsmayer ging in der Ausgabe, die er für den Th. Gut Verlag herausgab, auf diese Problematik ein (Vgl. Linsmayer, Charles: «Ein Liebeskummer von vorsintflutlicher Tiefe». Lore Bergers Roman «Der barmherzige Hügel», ihr «Journal intime» und ihr kurzes Leben in einer dunklen Zeit. In: Berger, Lore Der barmherzige Hügel. Eine Geschichte gegen Thomas. Zürich 2018, S. 277-278). Obwohl „die Romanfigur Esther nicht mit Lore Berger identisch [ist]“ (S. 277), sind die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Figuren unbestreitbar, und es wird angenommen, dass man für diesen Roman von autobiographischem Schreiben sprechen kann, wenn man, wie Ulivieri behauptet, autobiographisches Schreiben als ein Bedürfnis, als eine Suche nach Sinn im existentiellen Weg gesehen werden muss. Das Subjekt findet in den Worten, die sein Leben beschreiben, den Ort der Bedeutung, an den die Ereignisse einer ganzen Existenz gestellt werden, und das heisst, dass die Schrift zu einem Moment der Identität wird. Die Narration hier ist ein kritisches Umdenken über das eigene Sein in der Welt, d.h. die Fähigkeit, Gedanken mit der Pragmatik der menschlichen Existenz in Beziehung zu setzen. Für eine eingehende Untersuchung des weiblichen autobiografischen Schreibens siehe Ulivieri, Simonetta: Le donne si raccontano, Pisa 2019.
  10. Vgl. Lavagetto, Mario: Freud, la letteratura e altro, Torino 1985, S. 387.
  11. Mattia Mantovani widmete dem Roman von Lore Berger die Folge vom 9. Mai 2016 der Rete Due-Sendung Il Segnalibro und weitere Radioeinblicke, die auf https://www.rsi.ch/cultura/focus/Lore-Berger-13269702.html abrufbar sind (Letzter Abruf: 26.09.2020).
  12. Imperativ von misereri, Barmherzigkeit zeigen.
  13. Auch Lore Bergers Verhältnis zur Religion lässt sich dank der bereits erwähnten kritischen Beiträge von Camatta und Linsmayer rekonstruieren; die Schriftstellerin erhielt eine säkulare Erziehung und näherte sich im Alter von 16 Jahren freiwillig dem Protestantismus.
  14. Zum Begriff „Misereor“ siehe Markus 8,2. Dort wird das Wort mit “ich erbarme mich” übersetzt.
  15. Weitere Informationen über den Ursprung des Begriffs findet man unter www.hesed.it (Letzter Abruf: 26.09.2020).
  16. Berger, wie Anm. 9, S. 16. Von nun an beziehen sich die Zitate des Romans auf diese Ausgabe und werden direkt im Textkörper mit der Abkürzung DBH, gefolgt von der Seitenzahl, angegeben.
  17. Vgl. Camatta, wie Anm. 5, S. 147.
  18. Walser, Robert: Jakob von Gunten. In: Ders.: Das Gesamtwerk. Hrsg. von Jochen Greven. 12 Bde. Frankfurt a. Main 1978, Bd. 6, S. 8.
  19. Das Interesse der Schriftstellerin an der Floriographie ist nicht ungewöhnlich: Bereits im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert waren Bücher zu diesem Thema weit verbreitet, beginnend mit Letters of the Right Honourable Lady Montagu Written during Her Travels in Europe, Asia and Africa to Persons of Distinction (1766), und dann weiter mit dem anonymen ABC der Blumensprache (1814), wahrscheinlich eine Übersetzung des ersten wirklichen Buches über die Sprache der Blumen von Monsieur B. Delachénaye; Le language des fleurs (1818) von Charlotte de Latour – ein Pseudonym, hinter dem vielleicht die Ehefrau von Eugène Cortambert, Louise, stand –, 1820 von Karl Müchler ins Deutsche mit dem Titel Die Blumensprache oder die Symbolik des Pflanzenreiches übersetzt; das Werk des Berliner Johann Daniel Symanski Der Selam des Orients oder die Sprache der Blumen (1821) und schließlich Blumen und Lieder: eine musikalische Blumensprache (1895) von Elise Polko. Es ist durchaus denkbar, dass einige dieser Titel zur Bibliothek einer Basler Bürgerfamilie wie den Bergers gehörten – der Vater der Autorin war Stenographielehrer an einem Gymnasium – und die Aufmerksamkeit der jungen Lore auf sich zogen, die von der Natur so in den Bann gezogen wird.
  20. Für weitere Hinweise siehe Wacker, Marie-Theres:  Ester. Jüdin – Königin – Retterin. Stuttgart 2006.
  21. Für die verschiedenen Bedeutungen, die der Birke zugeschrieben werden, vgl.: Dietz, S. Theresa: The Complete Language of Flowers. A Definitive and Illustrated History. New York 2020, S. 39.
  22. Zur Bedeutung der Mohnblume vgl.: Dietz, wie Anm. 20, S. 158. Siehe hierzu auch: Kirkby, Mandy: A Victorian Flower Dictionary. New York 2011 (Ebook Edition), S. 60.
  23. Zur Bedeutung des Rittersporns vgl.: Dietz, wie Anm. 20, S. 74.
  24. Vgl. Brosse, Jacques: Storie e leggende degli alberi. Pordenone 1989, S. 189.
  25. Vgl. Dürrenmatt, Friedrich: Kants Hoffnung. Zwei politische Reden. Zürich 1991, S. 15.
  26. Ebd. S. 15.
  27. Zur Bedeutung der Akazie vgl.: Dietz, wie Anm. 20, S. 11.
  28. Leopardi, Giacomo: Zibaldone di pensieri. 2 Bde. Hrsg. v. Francesco Flora. Milano 1967, Bd. 2, S. 19 („Nur wenige können großartig sein – und in der Kunst und Poesie vielleicht gar keine –, wenn sie nicht von Illusionen beherrscht werden“).
  29. Zur Bedeutung der Glockenblume vgl.: Dietz, wie Anm. 20, S. 48. Siehe hierzu auch: Cattabiani, Alfredo: Florario. Miti, leggende e simboli di fiori e piante. Milano 1996 (Ebook Edition), S. 400.
  30. 1981 drehte Beat Kuert die Verfilmung von Lore Bergers Roman. Ein Dank geht an den Regisseur für seine Hilfsbereitschaft in den Kontakten während der Forschungsphase.
  31. Für weitere Hinweise siehe Gentile, Andrea: Sulla soglia. Tra la linea-limite e la linea d’ombra. Morolo 2012.
  32. Vgl. Camatta, wie Anm. 5, S. 30.
  33. Vgl. Heidegger, Martin: Bauen, Wohnen Denken. In: Ders.: Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1994, S.139-156. Der Hinweis auf Heidegger stammt aus den Seiten von Bühler, Benjamin: Ecocriticism. Grundlagen – Theorien – Interpretationen. Stuttgart 2016, S. 142-146.
  34. Zur Bedeutung des Maulbeerbaums vgl.: Dietz, wie Anm. 20, S. 143.
  35. Vgl. Camatta, wie Anm. 5, S. 150.
  36. Zur Bedeutung von Rosen siehe: Dietz, wie Anm. 20, S. 186-190.
  37. Zur Bedeutung des Löwenzahns vgl.: Dietz, wie Anm. 20, S. 214. Siehe hierzu auch: Pickles, Sheila: Il grande libro del linguaggio dei fiori. In prosa e in versi. Roma 1999, S. 50.
  38. Zur Bedeutung des Gänseblümchens vgl.: Dietz, wie Anm. 20, S. 127.
  39. Für weitere Hinweise siehe Di Vona, Piero:  La conoscenza «sub specie aeternitatis» nell’opera di Spinoza. Napoli 1995.
  40. Garrard, Greg: Ecocriticism. London-New York 2004, S. 23.
  41. Vgl. ebd., S. 24.