Einleitung

Als Max Frisch 1965 seinen Text Überfremdung I schrieb, hatte er gerade fünf Jahre Italienaufenthalt hinter sich, dank dem er sein Vaterland mit einer Distanz betrachten konnte. Die wirtschaftlich boomende Schweiz zog viele Ausländer auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten an, unter denen die Italiener eine Mehrheit bildeten. Frischs Text baut auf der Spannung auf, die zwischen dem Bedürfnis der angekommenen Menschen nach Würde und der Vorstellung der Einheimischen, sie hätten lediglich „Arbeitskräfte gerufen“, entsteht. Der Mitte der 1960er Jahre publizierte Kurztext sorgte für Aufregung und verleitete die Kantonsbehörden dazu, Frisch einzuladen, einen Vortrag vor dem Fremdenpolizeichef zu halten, der dann als Überfremdung II erschien.
Das zur „Überfremdung“ mutierte Problem der Einwanderer wird von Frisch schonungslos als eine Frage der eigenen Identität der Schweiz und ihrer Krise entlarvt. In ihrem Verhältnis zu Einwanderern sehen sich die Schweizer wie in einem Spiegel wieder. Max Frisch versucht, seine Mitbürger zu einer Revision der kulturellen Grundlagen zu bewegen, auf denen die schweizerische Identität errichtet wurde und welche, obwohl angesichts der Krise ineffizient, weiterhin gepflegt werden. Die 2014 in der Schweiz gestarteten Volksinitiativen und deren Resultate sowie die Entwicklungen in anderen europäischen Staaten, in denen Anti-Einwanderer-Politik rasant an Popularität gewinnt, zeugen von der Aktualität des von Frisch aufgegriffenen Themas. Anhand von Beispielen aus der Schweizer Literatur wird der Versuch unternommen, die literarische Reflexion über das im Bereich der „Überfremdung“ gebildete Spannungsfeld in der literaturhistorischen und aktuellen Perspektive darzustellen.
Die Höhepunkte der „Überfremdungsfrage“ markieren seit ihren Anfängen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, über die 1960er Jahre bis zur Gegenwart die Tiefpunkte auf der Kurve der Identitätskrisen. Überfremdung I bildet in dieser Entwicklung den Mittelpunkt, von dem aus man den forschenden Blick auf den Beginn des gespannten Verhältnisses zu den Einwanderern und auf dessen gegenwärtige Ausprägung im Kontext des Selbstverständnisses der Schweizer werfen kann.