„Irgendwie bin ich drin, verstehe aber nicht, wie.“1 Der einleitende Satz aus dem neuesten Buch von Matthias Zschokke Lieber Niels könnte im Kontext der darauf folgenden Suite von Klagen über das Computer- und Internetwesen zur Vermutung verführen, es handle sich bloß um eine gewisse Unbeholfenheit des Schreibenden im Umgang mit den neuen Medien. Man kann aber den Satz auch als ein Ausdruck der Überraschung verstehen, die Alice erlebte, als sie in das Kaninchenloch hineinschlüpfte und beim Hinunterfallen sich selbst fragte, wo sie eigentlich ist, wie lange sie fallen und ob sie am Ende in „Antipathien“2 landen wird. Es ist also eine Einladung in die imaginäre Welt der literarischen Fiktion, die sich trotz der Form des Mailwechsels, also einer an sich nicht literarischen Wirklichkeit, auf den Buchseiten entfaltet. Nimmt man diese verlockende Einladung an, wird man durch einen Strom von Zweifel-, Freude-, Euphorie-, Enttäuschung- und Verzweiflungsausdrücken eines Erzählers mitgerissen, der sich kaum zu einem Ganzen zusammenbasteln lässt und eben E-Mails-artig fragmentarisch bleibt. Der Text will dem nach auch nicht so werden, wie ihn Matthias Zschokke selbst nachträglich sieht, ein „moderner Entwicklungsroman“3. In der Metamorphose von einer Reihe E-Mails zu einem Buch ordnet sich der Text in das für Zschokkes Schreiben typische Motiv ein, in dem die erfahrene Wirklichkeit mit der fiktionalen konfrontiert wird. In dieser Konfrontation bildet die Selbstbefragung des Autors und die Ergründung des Verhältnisses Autor-Erzähler-Figuren-Leser eine entscheidende Rolle. Zu seinem jüngsten Buch, das er selbst als Roman bezeichnet, sagt Zschokke: „Die Mails kamen mir vor wie literarisches Material. Die realen Personen, Orte, Begebenheiten wurden zu Charakteren, Erzählungen, fiktiven Räumen. Ich wusste oft gar nicht mehr, ob es das oder den, von dem ich erzähle, so wirklich gab.“4 Mit dem aus aufgeschriebenen Bruchstücken des Alltags zusammengestellten Roman begibt sich Zschokke auf ein für ihn neues Terrain der Fiktion, denn ein so konstruierter Text eröffnet einen ganz anderen Erwartungshorizont beim Leser, welcher bei der Lektüre einen Wirklichkeitsbezug herzustellen geneigt ist. Die Wendung an einen im Text abwesenden Niels, der lediglich als eine Anredeperson funktioniert und ähnliche Rolle annimmt wie Hamid in Maurice mit Huhn oder ein Freund in Der dicke Dichter, erinnert jedoch an andere fiktionale Texte Zschokkes, in denen die Briefform eine wesentliche Rolle spielt, und erlaubt es, auch diesen Roman als einen Ausdruck literarischer Imagination aufzufassen. Dies umso mehr als der Erzähler in einem seiner früheren Texte Mein Freund, mein gusseiserner Ofen von einem unabwendbaren Prozess der Fiktionalisierung der Erfahrungswirklichkeit spricht: „liegt es am gleichbleibend weißen Papier, dass sich die Weltausnahmslos auf eine Fläche von 20,9 mal 29,7 Zentimeter zusammenzieht, sobald ich sie mir vornehme?“5 Das weiße Blatt Papier ist nur eines der spärlichen Requisiten in der Klause des Schreibenden Subjekts, weitere sind die kahlen Wände und der gusseiserner Ofen. Sonst nichts, was die Aufmerksamkeit des erzählenden Dichters ablenken könnte. Möchte er von seiner nordöstlichen Wand, die seine Welt vermauert6, seinen Blick abwenden, wird er geblendet und zum Niesen veranlasst. Der Blick ins Freie wirkt überhaupt nicht befreiend, ganz im Gegenteil. Es ist der gusseiserner Ofen, an dem sich die dichterische Freiheit entfalten und die Welt des Subjekts formen kann. Bescheiden beteuert der Erzähler, der Ofen erkläre ihm nicht die ganze Welt, er sei kein Bild für sie7. Und doch reibt sich der Blick des Subjekts an dem Ofen, wenn dieser auf die Wand gehoben wird, an der sich die Phantasiewelt entfaltet. So gleiche sein Kaiser von Rom dem gusseisernen Ofen, seine Geliebte dem schiefen Ofenrohr und ihre Augen erinnern an schwarze Fabrikfenster.8 Der Erzähler wagt nicht einmal in die Ferne zu schauen, denn er ist sich seiner Frist bewusst. Die Wände und der gusseiserne Ofen reichen ihm völlig aus, um seine eigene Welt aufzubauen. „All meine Schlösser und Seen, meine herrschaftlichen Wohnungen und Piratenschiffe bilden nur diesen einen Raum ab.“9 Alles andere: Namen, Personen, Gebäude, Straßen, Cello oder Sonne sind lediglich dazu da, den Blick an ihnen reizen zu lassen, Gedanken in Bewegung zu setzten und eine imaginäre Welt aufkommen zu lassen. Ist man schon in dieser Welt, wird man auf die Ebene der Textur versetzt, wo alles möglich und nichts voraussehbar ist – dem Alices Wunderland gleich, wo die Figuren und Räume ihren gewöhnlichen Bedeutungszuschreibungen widersprechen und man weiß nicht einmal, ob Alice die erzählende oder erzählte Figur ist.
Wie Beatrice von Matt in der Rezension von Maurice mit Huhn über die Hauptfigur feststellte: „Wenn er schreibt, lebt er gern.“10 In dem Figuren-Qui-Pro-Quo Zschokkescher Texte kann man die Worte genauso gut auf den Autor beziehen, der eher in der Fiktion einen Weg zur Wahrheit zu finden trachtet als in der Erfahrungswirklichkeit. Deswegen wendet der Erzähler in Mein Freund, mein gusseiserner Ofen seinen Blick von der Seite ab, die ins Freie führt, wo die Wirklichkeit wahrzunehmen wäre, die ihren Anspruch auf Wahrheit lediglich vortäuschen kann. Was sie kann, ist nur Blendung, die das Niesen verursacht. Will man als Autor die Erfahrungswirklichkeit in Worte fassen, zeigen sich die Worte stur, widersinnig und falsch, die Bedeutungszuordnungen führen irre.
Die Wörter sind falsch, sie erzählen anderes; keines wie es eines sein muss; jedes dreht sich nach dem Wind, und kaum ist es ausgesprochen, ändert es seine Bedeutung. Ich sitze hier, schaue zum Fenster hinaus, lasse die Wörter über die Seite laufen, lasse das Blatt liegen, gehe am Nordufer entlang über buckliges Pflaster und freue mich, wenn mir ein Lastschiff entgegenkommt.11
Die Lastkähne ziehen Jahr für Jahr vorbei, was dem Erzähler eine gewisse Ruhe spendet – auf diese kann man sich verlassen. Die vorbeifahrenden Schiffe reduzieren sich in der ständigen Wiederholung auf die bloße Form der Schifffahrt. Jener ähnlich will der Erzähler die Wörter über die Seiten treiben lassen12, auf dieses Treiben konzentriert, ohne diesen gewöhnliche Bedeutungen zuzuschreiben, die einen Plotansatz stiften könnten. Ein Satz soll bloß als Satz da stehen, ein Wort soll nichts mehr sein als ein Wort. Erst da können sie echt, wahr sein. So wie das Herz des Erzählers in der ständigen Wiederholung „pocht und pocht und pocht und pocht, die Lunge füllt sich, leert sich, füllt sich, leert sich, das Kohlekraftwerk auf der anderen Seite des Kanals ist überwältigend“13, so reihen sich die Wörter aneinander von ihrem gewöhnlichen Zusammenhang gerissen, in einen Redestrom eingefügt, der die alten Textinstanzen und Hierarchien aufhebt. Auf der Ebene der Textur entfalten die Wörter andere Zusammenhänge und dank dem, dass sie ausschließlich für sich selbst stehen, sind sie wahr, so wie „zwei Tauben sind Tauben vor meinen Füßen.“14
Indem die tradierten Textinstanzen wie Autor, Erzähler und Figuren von ihren Hierarchien losgelassen werden, wird zugleich der teleologische Aufbau des Textes gekündigt. Es wird nicht geschrieben, um eine Geschichte zu erzählen, sondern um den Text entfalten zu lassen. Wie das Subjekt in Der dicke Dichter beteuert, nichts kann besser über das Stülpen von einer Leere in eine andere eines Dichters zeugen als eben eine solche Geschichte:
[…] und wir sitzen auf unseren blödsinnigen Stühlen, in Zimmern, vor Brandmauern, und schreiben im panischen Eifer von fetten Tanten und einäugigen Onkeln, die wir nie hatten, von Händen, die die unseren wie Schraubzwingen umschließen, von verpesteten Wohnungslosen an unseren Wegen, und wir glauben, ihn in den Griff kriegen zu können, all den Jammer, bilden uns ein, selbst dafür verantwortlich zu sein, und die Angst, die wir haben vor der eigenen Verwahrlosung, diese unendliche Angst, die uns treibt zu schreiben und zu schreiben […] Nichts für ungut, diesmal mit einem weißroten Glühweinpaket in der dunklen Faust, war offenbar kurz hingeschlagen vor meinem Fenster, zu Boden gegangen, auf den Asphalt, von der Schläfe tropft Blut, jetzt dreht er sich weg, taumelt aus dem Blickfeld und wir schreiben von Mördern und von Siegern, von Ermordeten und Besiegten, von Gelesenem, von Gehörtem, machen Verrenkungen, schlagen Kapriolen, erfinden schwitzend Tode in Venedig, hundert Jahre Einsamkeit klöppeln wir mühselig aneinander, kennen keine Scham und keine Zweifel, fabulieren kindisches Zeug zusammen, das dann von endgültig verzweifelten Schwätzern als großer Weltentwurf bezeichnet wird.15
Dabei ist es dem Erzähler klar, dass all die geschriebenen Geschichten nichts mehr als eine Ablenkung sind von dem Bewusstsein, dass wir uns auf den Abgrund zu bewegen, der müde vor uns gähnt. Von der Lächerlichkeit gehetzt, versuchen die Schriftsteller sich aufzuhalten, kurz stehen zu bleiben, indem sie die Geschichten erzählen. Dadurch werden aber die Mauern, welche den Weg links und rechts eingrenzen, höher und höher.
Aber wir sollten die Richtung ändern, die Mauern links und rechts nicht akzeptieren, sie niederreißen, nicht bloß rumjammern, rumplagiieren, dass sie niedergerissen werden müßten. Wie falsch es ist, daß keiner wagt, sie anzurühren! Und dabei steht längst alles geschrieben, die schönsten, wahrsten Seiten liegen herum auf den Wegen zwischen Mauern, wobei wir wissen, daß auch sie letztendlich aus lauter Irrtümern bestehen, diese schönsten, wahrsten Seiten, daß sie uns ablenken, uns irremachen, daß sie die Mauern sind und daß wir uns hüten sollten davor, immer neue Seiten draufstapeln zu wollen, Schicht auf Schicht, Geschichten, und tun es doch, verzweifelt, lenken ab, bringen die liebenswürdigsten Romanhelden erbarmungslos immer wieder um, murksen zarte Fräuleins ab auf den Seiten hundertzweiundzwanzig, geben uns alle Mühe, umarmenswerte Freunde seitenlang aufzubauen, um sie dann eiskalt und hinterhältig ertrinken zu lassen…16
Damit die Mauern um den Dichter und zugleich um seine Leser nicht immer weiter irre führen, versucht Zschokke die Geschichten zu hintergehen, indem er, wie oben festgestellt, die tradierten Textinstanzen in Frage stellt und das Textgeschehen auf die Textur-Ebene verlegt. Da entfalten sich Sätze, einzelne Sprach-Bilder für einen Moment des Lesens zu Wahrheitseinheiten, an denen sich der Leser entzücken oder auch über diese ärgern kann. Aufhören zu schreiben, kann der „wahre“ Dichter nicht, er steckt in seiner Haut, „die schuppig und schäbig [ihn] gefangen hält, die [er] ritzen kann und verbrennen, [er] läuft doch nicht aus, sie entlässt [ihn] nicht, bis [er] hin ist“17. Auf das Erzählen ist er angewiesen, das ihn und seine Leser in eine einigermaßen komfortable Lage versetzt, wo sie von dem Unrat des Alltags für kurze Zeit befreit werden18. Erzählen kann aber nicht bedeuten, dass man der Erfahrungswirklichkeit ein Doppel schafft, denn diese lässt sich, Zschokke zufolge, auch nicht in einen geordneten, kontinuierlichen literarischen Rahmen hineinzwängen. Wie es in Das lose Glück gesagt wird: man wisse doch im Leben selbst nicht, ob man sich am Anfang, am Ende oder gerade in der Mitte befinde19.
Und doch leugnen lässt sich die erfahrene Wirklichkeit nicht. Sie liefert jedes Mal den Stoff zu einer Erzählung, zu einem freien Gedankengang und öffnet die Tore zur Phantasiewelt. So bewegen sich der Erzähler, Autor oder Figuren in einer Zwischenzone, leicht über dem Boden, doch nicht zu hoch, damit der Kontakt mit der Realität erhalten bleibt. In Brief an die Genfer sagt der Autor/Erzähler über seine schöpferische Tätigkeit, sie wäre nichts mehr als Ballast abzuwerfen, um in höhere Sphären zu gelangen. Er selbst wäre einer, der
Sand rieseln lässt, nicht steigt, nicht sinkt, der flach dahin gleitet, knapp über dem Boden der Realität, den Alltag sehend, die Mauern, die Furchen, die Schrecken der Banalität, der offensichtlich zu zaghaft abwirft, um zu steigen, der wohl insgeheim die dünne Luft weiter oben fürchtet, der fein säuberlich immer nur gerade so viel herunterwirft, dass er nicht aufschlägt, aber auch so wenig, dass es ihn nicht in die Sterne heben kann.20
In seiner Berliner Schreibstube sitzend sinniert das Subjekt, was er den Genfern sagen könnte. Seine Gedanken werden unvermittelt an den See gebunden, der eine Reihe von Assoziationen auslöst, die kaum etwas mehr mit dem wirklichen See zu tun haben, als eher mit der Vorstellung von diesem. Es ist jetzt ein See, der sich in einen schweizerischen Kontext nicht einordnen lässt, er erinnert den Erzähler an Russland, oder eher auch an die Vorstellung von Russland, an ertrunkene römische Kaiser, die nach Jahrhunderten auf dem Seegrund versteinert liegen müssen. Der See hat zu tun mit „dem letzten, vorletzten Jahrhundert, mit verlorenem Reichtum, blassen, fallsüchtigen Töchtern, zarten Gliedern, hellen Augen, mit Hochmut, Adel, Irrsinn – das Wasser Jahrtausende alt.“21 In seiner Vorstellung verfangen trennt sich das Subjekt nicht nur von seiner Wirklichkeit ab, sondern kann keinesfalls an die echten Genfer gelangen. Sie verweilen in ihren eigenen Wirklichkeiten, zu denen er, am Schreibtisch in Berlin, keinen Zugang hat. Was realisiert werden kann, ist ein Treffen auf der Ebene der Fiktion, die am wichtigsten ist.
Schon die Erste Erzählung aus der Sammlung Ein neuer Nachbar konfrontiert den Leser mit einer sonderbaren Situation, in der eine männliche Figur beim Betrachten der am Meer untergehenden Sonne „etwas Poetische, Melodiöses“ zu empfinden versuchte. Es gelang ihm jedoch nicht. Anschließend aß er mit seiner Frau „gegrillten Fisch mit Knoblauch und Bratkartoffeln, Salat, dazu tranken sie Wein.“22 Dann starb er. Der Übergang, der sich von der unpoetischen Beobachtung der Sonne, über das triviale, poesielose Essen zum Tod vollzieht, fügt sich zu einem kleinen Bild zusammen, das seinen Inhalt direkt, buchstäblich vermittelt. Dies entspricht dem ästhetischen Vorhaben des Autors, für den das direkt Genannte wertlos erscheint.
Im Leben muß, was einem wert und wichtig ist, weggepackt, verborgen, ausgespart werden, erst dann erglüht und lockt es in voller Pracht, und alle verzehren sich danach. Nur das Erahnte, das Schwererhältliche, das Fast-Nicht-Erreichbare weckt unsere Gier.23
Und obwohl das Subjekt die obigen Worte auf das Leben im Vergleich zum Film bezieht, lässt er die Figuren in der Erzählung verschwinden, damit sie am Leben erhalten bleiben. In dem späteren Roman Maurice mit Huhn geht der Erzähler auf diesen Gedanken noch einmal ein, diesmal das Ahnen dem Wissen widersetzend: „Wissen ist grauenvoll, erholsam dagegen das Ahnen.“24 Deswegen entscheidet sich die sprechende Instanz in der Erzählung Das Cello, nicht mehr weiter nach dem Cello-Spieler zu suchen und deswegen verfolgt Zschokke dasselbe Motiv in Maurice mit Huhn, wo die Wand lediglich leise Töne eines(r) Cellisten(in) durchdringen lässt, ohne sich in ein konkretes musisches Werk zu verwandeln. An diesen kaum vernehmbaren Tönen ergötzt sich Maurice: „Durch den Filter der Wand dringt ausschließlich die Idee des angestrebten Klangs zu mir. Jegliche Gefallsucht, Koketterie, alles Repräsentieren entfällt. Die Töne sind um ihrer selbst willen da.“25 Die Töne als Idee, die sich erahnen lässt, kaum ein Wissen, das sie erwürgen würde.
Selbst dieses Ahnen zeichnet sich in Zschokkes Texten durch eine ungewöhnliche Intensität aus. Es gestaltet sich so, als wären die Figuren in seinen Texten mit einer wunderbaren Fähigkeit ausgestattet, im Auge des Lüftchens stehend, sich in alle sie umschwebenden Bewegungen, Gegenstände, Regungen einzufühlen und quasi mit diesen identisch intensiv mitzuerleben. Maurice genießt den Augenblick der Gunst, der die Töne filtert, aller Begleitung beraubt, die das Zuhören hindern, auf Abwege führen könnten, wie es normalerweise im Leben der Fall ist. Den Mechanismus der Ablenkung stellt Zschokke in der Passage in Maurice mit Huhn, wo Maurice einen Hautarzt besucht, um sich ein Muttermal entfernen zu lassen.
Maurice wartete. Dann kam der Arzt hereingehastet, schloß den Vorhang hinter seinem Rücken, setzte sich Maurice gegenüber, nahm einen Schluck aus der Tasse und fragte, und? – Kaum öffnete Maurice den Mund und setzte zum Reden an, schleuderte der Arzt seinen Kopf nach rechts und lieh Maurice auf diese Weise sein linkes Ohr, derart vehement, daß Maurice zusammenzuckte und ebenfalls nach rechts, das heißt, von ihm aus gesehen, nach links blickte, in der Meinung, dort etwas Unerwartetes zu entdecken. Doch da war nichts.26
Es ist ein leeres Manöver, das an sich nichts bedeutet und zu nichts führt, und doch die Aufmerksamkeit der Beteiligten weckt und vom Wesentlichen ablenkt. Dem Bild Ankers ähnlich, das dem Roman den Titel gab, wird der Blick des Betrachters auf das Huhn konzentriert, das das Wesentliche zudeckt. Das ins Zentrum des Bildes gestellte Tier verdrängt den kleinen Jungen in den Hintergrund, so wie Sätze und Gedanken, die Maurice irgendwann begann sich zu machen. „Je länger er sich darin übte, desto schwerere tat er sich damit. Zu allem fiel ihm das eine oder andere ein, gleichzeitig aber auch immer dessen Gegenteil, weswegen er, weil er sich immerzu selbst immer ins Wort fiel, schließlich die Lust verlor, überhaupt noch etwas zu sagen.“27 Hinter den Gedanken, die einander widersprachen, verlor sich Maurice immer mehr, und um nicht ganz zu untergehen, hört er auf zu sprechen. Er ist ein schwaches Subjekt, das nicht imstande ist, sich durchzusetzen, auf den ersten Plan zu treten. Das Huhn, die Gedanken, die ausgesprochenen Sätze, Kopfbewegung des Arztes sind die schon erwähnten Mauern, welche die weite Sicht verstellen. In dieser könnte man wohl die Zusammenhänge erblicken und sich der Wahrheit nähern. Es ist eine ästhetische Bestandaufnahme eines Dichters, die an die Gesellschaftskritik bei Botho Strauß erinnert, welche in dessen Roman Paare, Pasanten28 zum Ausdruck gebracht wurde. In der Anfangsszene weckt ein allein an einem Tisch sitzender Mann die Aufmerksamkeit anderer Gäste durch ein leises „Psst“. Das wiederholte „psst“ läßt die anderen auf den Mann schauen, der mit seinem Finger auf die Wand hinweist. Doch da ist nichts Besonderes zu finden. Das kurze „psst“ und der ausgestreckte Zeigefinder werden zur Allegorie der Wirklichkeit von Botho Strauß, die Signale sendet, damit die Menschen den Eindruck haben, sie wäre ereignisvoll. Die Pseudoereignisse täuschen eine Fülle vor, hinter jenen gähnt aber eine erschreckende Leere.
Und doch nicht alle Kleinigkeiten der Wirklichkeit lassen sich als Störfaktoren betrachten. Es liegt im Ästhetischen Programm Zschokkes, Details aufzuwerten. Man muss nur vermittels einer offenen Sicht die Wirklichkeitspartikeln als strukturierende Elemente wahrnehmen können. Solange jedoch das Subjekt seine eigene dominierende, den Handlungsraum gestaltende Position wahrhaben will, entfliehen die Details, indem sie sich dem ordnenden Blick des Subjektes unterwerfen, dann täuschen sie lediglich die Wirklichkeit vor. Indem Zschokke seine Figuren, das Subjekt, den Erzähler und sogar den Autor selbst ihrer Vorbestimmung beraubt, sie den Objekten gleich auf die Ebene der Textur verlegt, schafft er die Bereitschaft für eine reibungslose Einfühlung in andere Figuren, Objekte, Zustände. Da fügen sich all die jetzt gleichwertigen Textobjekte in ein harmonisches Zusammensein, das das Ahnen und somit das Wahre für einen Augenblick aufkommen lässt.
„Um am Genfer See zu bleiben: Es ist als sei ich in diesen hineingestiegen, hätte begonnen, darin zu schwimmen, und je länger und weiter hinaus ich schwimme, desto tiefer und größer wird der See.“29 In einer direkten Konfrontation mit dem Seegedanken scheint alles, was mit dem See verbunden ist, seine Mythologie, seine Umgebung, Menschen, welche an dem See wohnen, lediglich eine Zusatzverzierung zu sein. Der Sinn des Sees dagegen immer weiter entfernt, immer tiefer verborgen nur als eine Art Versprechen am weiten Horizont der Ahnung. Was im Text lediglich als eine Ahnung ausgegeben wird, kommt beim Leser wie eine Gewissheit auf, die auf einer Intensität des Mitempfindens der erzählenden Instanz beruht. i tu o leniuchu 120
to na koniec: że pisarz treibt die woerter vor sich hin, auf die Jahresenden zu, murmelt vor sich hin. Der dicke…, S. 107