Ausgabe 1 /2017
Anna Fattori, Universität Rom Tor Vergata
Der literarisch und journalistisch tätige, heute beinahe in Vergessenheit geratene Schweizer Autor Heinrich Federer (1866-1928) galt jahrzehntelang ausschließlich als die Werte der katholischen Religion verbreitender, klischeehafter Priesterdichter und – hauptsächlich aufgrund seiner erfolgreichen Romane Berge und Menschen (1910-11) und Pilatus (1912) – als Vertreter der Heimatliteratur, obwohl sein Œuvre vielfältig ist und etliche literarische Genres umfasst.
Der in Brienz geborene, aus armen Verhältnissen stammende Schriftsteller besuchte das Gymnasium in Sarnen und das Kollegium in Schwyz und studierte Theologie in Eichstätt (Bayern), Luzern und Freiburg im Üechtland. Ende der 1880er Jahre publizierte er seine ersten Gedichte und begann, an Theatertexten zu arbeiten. 1893 wurde er zum Priester geweiht und war bis 1899 Kaplan im toggenburgischen Jonschwil, daraufhin wurde er Hauskaplan im Elisabethenheim in Zürich. Er schrieb regelmäßig literarische, geschichtliche und künstlerische Studien sowie Rezensionen für Zeitungen wie Die Ostschweiz und Vaterland. 1899-1902 war er Hauptredakteur der katholischen Tageszeitung Neue Zürcher Nachrichten. 1903 bis 1914 begab er sich regelmäßig nach Italien; von seinen Aufenthalten im Tessin und in der subalpinen Halbinsel zeugen zahlreiche Reiseberichte, Erzählungen und Plaudereien, die er in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften publizierte.1 1919 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Bern verliehen. Der schon als Kind an Asthma leidende Dichter starb 1928.
Besonders in den Jahren 1910-13, als er Hauptrezensent für Der Aar: Illustrierte Monatsschrift für das gesamte katholische Geistesleben der Gegenwart war, besprach er zahlreiche literarische Texte. Er war nicht bzw. nicht nur „der liebevolle, schalkhafte, naturselige […] Poet, der Meister der kleinen Geschichte und Skizze, der gutgesinnte Verehrer der Schöpfung“2 – so stilisierte ihn Alfred Zäch in seiner Literaturgeschichte der deutschsprachigen Schweiz –, sondern auch ein äußerst belesener, scharfsinniger aber nie aufdringlicher Richter, der sich mit der Dichtung von zeitgenössischen Autoren sowie Schriftstellern vergangener Epochen beschäftigte.
Dass seine literarischen Kenntnisse außerordentlich breit waren und weit über die Grenzen der deutschsprachigen Literatur hinausgingen, steht heutzutage außer Frage. Weniger erforscht wurde hingegen die Art und Weise, wie er jeweils an die unzähligen Bücher heranging, die durch seine Hände gingen und die er mit Hingabe rezensierte oder die Gegenstand seiner Studien waren.
Der milde, menschenfreundliche, franziskanisch gesinnte Heinrich Federer war alles andere als ein allespreisender Rezensent; mag er zwar besonders jene Werke geschätzt haben – allen voran Die Verlobten von Manzoni3 –, denen die Grundsätze der christlich-katholischen Lehre innewohnen, so erwies er sich stets als ein auf die formalen Aspekte des Textes und auf dessen Poesie bedachter Leser. Das „Schwert der Kritik”4 soll stets geschliffen werden, meinte er; er bedauerte, dass die meisten der zeitgenössischen Literaturkritiker bzw. Rezensenten dazu neigten, undifferenziert zu loben und berief sich auf die mustergültigen, kritisch argumentierenden Rezensionen eines Schiller oder eines Heine 5. Er scheute sich nicht, einen Text wie die damals hochgepriesenen Buddenbrooks als einen kalten, eher auf Vernunft und Logik als auf Herz und Intuition basierenden Roman zu charakterisieren.6 Es kann sicher nicht geleugnet werden, dass er als Rezensent stets selbständig urteilte; der Dichter und Literaturkritiker Federer, dessen Kunstanschauung grundsätzlich im Realismus wurzelte, ließ sich kaum von Naturalismus und Symbolismus beeinflussen.
Nicht nur von seiner Selbständigkeit im Denken, sondern auch von seiner singulären, zwischen Ironie und Skurrilität oszillierenden Einbildungskraft sowie von seiner auf eine sehr sensible Art spottenden Bildersprache zeugt der 1914 in der Zeitschrift Süddeutsche Monatshefte publizierte und hier abgedruckte fiktionale Text Die Schweizer Dichter im Himmel, in dem ein humoristisch-groteskes, ins Surreale stilisiertes Bild der drei Hauptvertreter der deutschsprachigen Schweizer Literatur des 19. Jahrhunderts gezeichnet wird.
Im Himmel herrscht Langeweile und die Schweizer Dichter möchten nicht – wie die Kollegen aus anderen Nationalliteraturen – ihren Beitrag leisten, um sie zu vertreiben. Sie neigen dazu, sich zurückzuziehen und vermeiden den Kontakt zu den anderen Literaten und Literatinnen, zu denen u. a. Homer, Sappho, Horaz, Shakespeare, Goethe und Tolstoj gehören, die sich über das Verhalten der drei Schweizer beschweren und sie verspotten. „Sie haben bisher zur himmlischen Unterhaltung nichts als den Appenzeller Kuhreihen und am Fest der lyrischen Muse einen Hosenlupft geleistet”, stellt Fontane fest. „Behutsam wie Detektive des Jupiter” begeben sich einige im himmlischen Parnass wohnende Autoren – unter ihnen Racine, Pico della Mirandola, Erasmus, von Platen – auf die Suche nach C. F. Meyer, Keller und Gotthelf. „Drei, ja, drei sitzen drinnen am Feuer, ein Großer, ein kleiner und ein Dicker…”, sagt ihnen ein Semmelbübli. Die drei befinden sich in einer nach Käse, Schotten und Kuhmist riechenden Hütte, die das Abbild der ihnen vertrauten Heimat darstellt, nach der sie sich stets sehnen. Hier sind sie gar nicht mit literarischen Texten bzw. mit den schöngeistigen Tätigkeiten beschäftigt, im Gegenteil: Gotthelf frisst ein Stück nach dem anderen Schwarzbrot mit frisch geschmolzenem Käse und Keller raucht ununterbrochen einen der vielen Stümper, „wovon er alle Hosensäcke voll aus dem Zeltweg in Zürich in die Ewigkeit hinübergeschmuggelt hatte”, wobei der fragile Meyer – „der feinhörigste vom Kleeblatt” – bedauert, dass er mit Dante und Petrarca sich nicht unterhalten und nicht mit Moliére und Hutten „von einer Wolke in die andere“ plaudernd spazieren gehen kann, denn „Dante hat die Gicht und hockt ausschließlich mit Vergil zusammen. Petrarca schießt den ganzen parnassischen Tag Nachtigallen von den Bäumen, und Hutten und Molière […] fressen den grausamen Unschuldbraten mit auf und reißen gemeine Witze dazu”. Die hier zitierten Stellen möchten genügen, um zu zeigen, dass das Komische eine weitere Dimension von Federers Werk ist, die – zusammen mit der „psychologische[n] Subtilität [seiner] frühe[n] Erzählungen ”7, wie Beatrice von Matt sehr richtig feststellt – wieder entdeckt werden muss. Hier macht Federer mustergültig von einem der grundsätzlichen Kunstmittel Gebrauch, Komik zu erzeugen, nämlich vom Kontrast. Gegenübergestellt werden hier die Erwartungen des Lesers, der mit den Begriffen der Dichtung und der Jenseitswelt eine abstrakt-verklärte Lebensweise auf rosaroten Wolken verbindet, mit den grob-materiellen Zeitvertreiben bzw. mit den sehr menschlichen Beschwerden der im Himmel lebenden Dichter, die trotz ihrer Unsterblichkeit an Krankheiten leiden und die ihre Zeit mit kindischen Steckenpferden verbringen. Daraus ergibt sich eine scharfsinnige und gleichzeitig stets gutgemeinte Komik, die diesen Text zu einem der amüsantesten innerhalb von Federers Œuvre werden lässt.
Nachdem die drei Schweizer Dichter von den Kollegen und vom Gott Apoll gefunden werden, beschließen Gotthelf und Keller, die „Totenlangeweile” – ein „Afterparadies”, meinen sie – des himmlischen Parnasses zu verlassen, weil sie sich nach jenem Leben sehnen, das da nicht zu finden sei („Alles echte Fleisch und Blut wohnt im Fegefeuer oder in der Hölle”). Die im Klassikerberg weilenden Dichter ertragen unten den Schweizer Autoren nur Meyer, der „entschieden Talent und parnassische Allüren hat” und der verzichtet, zusammen mit den zwei helvetischen Kollegen den Weg zur Erde zu gehen. Die beiden Schriftsteller verlassen als Terzett den Himmel, denn zu ihnen gesellt sich Apoll, der die ihm unbekannte irdische Welt erfahren möchte („‚Ich habe noch nie gelebt, ich bin eine Sage’”). Der Text schließt mit der Frage ab, ob die Schweizer Dichter es schaffen werden, Apoll „zum Bruder [zu] gewinnen” und demzufolge ob er künftig Werke der dichtenden Kunst inspirieren wird, die ein Kapitel der Schweizer Literaturgeschichte prägen werden.
Diese offene Frage, die Vorstellungen in Bezug auf die Schweizer Literatur bzw. auf die wirklich göttlich inspirierten d. h. gelungenen dichterischen Texte des 20. und des angehenden 21. Jahrhunderts anregt, sei an den heutigen Leser und besonders an die Leserschaft der vorliegenden Zeitschrift gerichtet.
- Eine Auswahl davon ist in einem kürzlich erschienenen Sammelband publiziert worden, der versucht, dem kunst- und geschichtsbeflissenen Reisenden Federer Rechnung zu tragen. Vgl. Heinrich Federer: In und um Italien. Plaudereien, Reisebriefe und Erzählungen. Hrsg. u. mit einem Nachwort versehen v. Fattori, Anna / Jäger-Trees, Corinna / Zumsteg, Simon. Zürich 2015. ↩
- Alfred Zäch: Die Dichtung der deutschen Schweiz. Zürich 1951, S. 174. ↩
- Vgl. Heinrich Federer: Plauderei über Alessandro Manzoni (1923) und Glossen zum Jubiläum eines Romans (1923). In: ders.: Literarische Studien. Hrsg. v. Frick, Sigisbert. Luzern 1966, S. 195-205 bzw. S. 216-229. ↩
- Vgl. H. Federer: Das Schwert der Kritik (1910-11). In: ders.: Literarische Studien, wie Anm. 3, S. 27-31. ↩
- Vgl. ebd., S. 27. ↩
- Vgl. ebd., S. 28-29. ↩
- von Matt, Beatrice: Nachwort zu Unruhige Landsleute. Schweizer Erzähler zwischen Keller und Frisch. Ein Lesebuch. Hrsg. v. von Matt, Beatrice. Zürich und München 1980, S. 565-576, hier S. 570. ↩