„Der Text folgt dem Genius loci“
Ökokritik in Lyrik und Prosa von Martin Bieri

Daniel Rothenbühler
Hochschule der Künste, Bern

Als Lyriker und Essayist lässt Martin Bieri sich von seiner Erfahrung mit der „ästhetischen Neukodierung von Landschaft“ im Theater leiten. Der Gedichtband „Europa, Tektonik des Kapitals“ (2015) und der literarische Essay „Henzi Sulgenbach“ (2020) beschränken sich nicht auf die Evokation realer Orte und Landschaften, sie machen sie zu Generatoren von „kulturellem Wissen und kultureller Erfahrung“, für Hubert Zapf eine Grundvoraussetzung kulturökologisch wirksamer Literatur. Der Gedichtband vergegenwärtigt übers Internet 88 Orte des ganzen Kontinents, der Essay konzentriert sich auf den Lauf des Sulgenbachs in der Stadt Bern und deren Umgebung. Beide Male wird aufgezeigt, was im Lauf der Industrialisierung und Verstädterung verschüttet wurde, bei den Menschen, in der Natur und in der ökologischen Verschlingung beider. Im ständigen Verweis auf ihre literarische, mediale und elektronische Vermittlung und in der manifesten Ästhetisierung des Evozierten machen Bieris Texte nicht nur auf die Umweltschäden aufmerksam, sondern auch darauf, wie sehr wir am schönen Schein der Lebensbedingungen hängen, die sie hervorbringen. Bieri knüpft an Marx und seiner Kritik an der Störung des Stoffwechsels „zwischen Mensch und Erde“ durch das Kapital an, führt die Ökonomiekritik aber zur Ökologiekritik weiter, indem er Mensch und Arbeit nicht wie Marx „auf der einen“ und die Natur und ihre Stoffe „auf der andren Seite“, sondern in ihrer Verwicklung ineinander zeigt. Dabei legt er ein besonderes Gewicht auf das Ungleichzeitige in der Gleichzeitigkeit und das Ungleichräumige in der Gleichräumlichkeit und erinnert so an vergangenes und fortdauerndes Unrecht gegenüber Mensch und Natur. Die Gedichte halten immer wieder die Spannung zwischen fern und hier, einst und jetzt aufrecht, der Essay schenkt dem, was in der Geschichte von Mensch Natur verschüttet wurde, dadurch besondere Aufmerksamkeit, dass er das Schicksal des 1749 in Bern hingerichteten Samuel Henzi und das unvollendete Trauerspiel des jungen Lessing über diesen freiheitsdurstigen Aufklärer mit dem eingelochten Wasserlauf des Sulgenbachs verbindet.
Schlüsselwörter:
Lyrik, Essay, Ökokritik, Landschaft, Europa, Bern, Karl Marx, Umweltschäden, Unterdrückung, Geologie, Geschichte

„The text is following the genius loci“
Ecocriticism in poetry and prose by Martin Bieri

As a lyricist and essayist, Martin Bieri is guided by his experience with the „aesthetic recoding of landscape” in theatre. The poetry collection „Europa, Tektonik des Kapitals” (2015) and the literary essay „Henzi Sulgenbach” (2020) do not limit themselves to the evocation of real places and landscapes, they turn them into generators of “cultural knowledge and cultural experience”, for Hubert Zapf a basic prerequisite of literature that is effective in terms of cultural ecology. The book of poems visualises 88 places on the entire continent via the internet, the essay concentrates on the course of the Sulgenbach in the city of Bern and its surroundings. In both cases, what has been buried in the course of industrialisation and urbanisation is revealed, in people, in nature and in the ecological devouring of both. In the constant reference to their literary, media and electronic mediation and in the manifest aestheticisation of what is evoked, Bieri’s texts draw attention not only to the environmental damage but also to how much we are attached to the beautiful appearance of the living conditions that produce it. Bieri takes up Marx and his critique of the disruption of the metabolism “between man and the earth” by capital, but takes the critique of economy further to a critique of ecology by showing man and labour not “on the one side” and nature and its substances “on the other” as Marx did, but in their entanglement with each other. In doing so, he places particular emphasis on the non-simultaneous in simultaneity and the non-uniformity in the uniformity of places, thus reminding us of past and continuing injustices against man and nature. The poems repeatedly maintain the tension between far and here, once and now, the essay pays special attention to what is buried in the history of human nature by linking the fate of Samuel Henzi, executed in Bern in 1749, and the young Lessing’s unfinished tragedy about this freedom-thirsty Enlightenment philosopher with the enclosed watercourse of the Sulgenbach.
Keywords:
Poetry, essay, ecocriticism, landscape, Europe, Bern, Karl Marx, environmental damage, oppression, geology, history


Der amerikanische Ecocriticism hat es – ebenso wie die aus ihm hervorgehende europäische Ökokritik – „verabsäumt, eine klare und universelle Terminologie zu schaffen.“1 Der gemeinsame Nenner dieser Strömung mit ihren verschiedenen „wissenschaftlichen, technischen, politischen und kulturellen Diskursen über Umwelt“2 lässt sich aber darin finden, dass die Letzteren alle erstens „von einem praktischen Verwickeltsein von Mensch und Umwelt“ ausgehen, zweitens „auf eine Neukonfiguration des überkommenen Verhältnisses von Natur, Wissenschaft und Gesellschaft“ drängen und drittens ein Konzept von Umwelt vertreten, „das diese nicht als Äußeres und von der Sphäre menschlicher Aktivitäten Getrenntes objektiviert.“3 In der Literatur kann diese Neukonfiguration wohl am ehesten dann zur Geltung gebracht werden, wenn sie der Kategorie „place“ ein besonderes Gewicht einräumt. Don Scheese, Autor des Standardwerks Nature Writing (2002), unterstreicht „die zentrale Bedeutung der Interaktion von Autor, Ort und Text“, die aus seiner Sicht „zu einem paradigmatischen Bewusstseinswechsel von einer anthropozentrischen (egozentrischen) hin zu einer ökozentrischen (biozentrischen) Weltsicht führen könne.“4

Ästhetische Neukodierung von Landschaft

In der Literatur der Deutschschweiz stellt der Theaterwissenschaftler, -praktiker und -autor, Lyriker, Essayist sowie Kunst- und Sportjournalist Martin Bieri die von Scheese intendierte „Interaktion von Autor, Ort und Text“ seit 2002 ins Zentrum seines Schaffens. 1977 in Bern geboren, studierte er dort Theaterwissenschaft, Theologie und Kunstgeschichte und promovierte 2012 bei Andreas Kotte mit der Arbeit über Neues Landschaftstheater. Landschaft und Kunst in den Produktionen von „Schauplatz International“5. Diese breite interdisziplinäre Untersuchung fragt danach, wie das, was als Landschaft gilt, sich in den Wechselwirkungen zwischen den Künsten (Malerei, Theater), den Wissenschaften (Geologie, Geografie, Soziologie, Kunstgeschichte) und lebenspraktischer Wahrnehmung (Reiseberichte, Raum- und Stadtplanung, Architektur) ergibt, und inwieweit das „neue Landschaftstheater“ der Truppe „Schauplatz International“ heute „für Landschaftsdiskurse von Bedeutung ist oder nicht“ (NL 13). Ihr Autor stützt sich dabei in „beobachtende[r] Teilnahme“ (NL 10) auch auf seine Erfahrungen in dieser Truppe, für die er von 2002 bis 2014 in Bern und Berlin als leitendes Mitglied und Dramaturg tätig war. Er hat von 2002 bis heute allein oder in Kooperation zwölf Theaterstücke geschrieben und war zuvor und daneben auch als Dramaturg in Luzern und Zürich tätig.

2015 wurde in der Lyrikedition 2000 des Allitera Verlags sein erster Gedichtband Europa, Tektonik des Kapitals 6 herausgegeben, 2020 publizierte die edition taberna kritika seinen literarischen Essay Henzi Sulgenbach. Ein Lessing-Implantat7. Für beide Texte sind klar benannte reale Orte und Landschaften nicht nur Gegenstand literarischer Evokation und Darstellung, sie werden vielmehr in einem breiten Beziehungsgeflecht von faktengestützten Informationen, intertextuellen und intermedialen Verweisen und Einschüben sowie rhetorischen Figuren und Metaphern recht eigentlich zu Generatoren von „kulturelle[m] Wissen und kulturelle[r] Erfahrung“8, für Hubert Zapf eine Grundvoraussetzung kulturökologisch wirksamer Literatur. Bieris Texte leisten „aufgrund ihrer semantischen Offenheit und ästhetischen Komplexität“ das, was Zapf von einem literarischen Schaffen erwartet, das „sich in besonders komplexer und produktiver Weise mit der kulturbestimmenden Basisbeziehung von Kultur und Natur auseinandersetzt“9.

Für das Verständnis sowohl des Gedichtbandes wie des literarischen Essays Bieris kann es hilfreich sein, anhand seiner Dissertation zu skizzieren, wie er „Landschaft“ versteht und sich in seiner theaterpraktischen Arbeit damit auseinandersetzte. Er geht davon aus, dass „Landschaften“ in zweifacher Hinsicht menschlicher Aktivität entspringen: als Produkt menschlicher Wahrnehmung, also Gegenstand einer Ästhetik im weitgefassten Sinn, die sich weder auf „künstlerisch dargestellte noch ‚schöne‘ Landschaften“ (NL 300) einschränkt, und als Produkt „des Wirkens und Zusammenwirkens natürlicher und/oder anthropogener Faktoren“ (NL 300), eben dessen also, was im Fokus der Ökokritik steht, die ja darauf bedacht ist, dass in gegebenen Räumen und Orten „ein funktionaler Zusammenhang des Gesamtsystems Mensch und Natur ablesbar wird“10.

Die Produktionen, die Bieri als Dramaturg der Truppe „Schauplatz International“ mitgestaltete und in seiner Dissertation untersucht, wandten sich vor allem Räumen und Orten zu, die üblicherweise nicht als Landschaft betrachtet werden: „Nutzgebiete, funktionale Flächen, oder […] solche, die zum Beispiel ihrer Unwegsamkeit wegen gemieden wurden und mit der Zeit verwildert waren.“ (NL 360) Damit verfolgte „Schauplatz International“ zwei Hauptziele: mit einer „ästhetischen Neukodierung von Landschaft“ zu spielen, also Dinge sichtbar zu machen „und schön zu finden, die einem zuvor keinen Blick wert gewesen waren“ (NL 360) und in diesem Bemühen, „auf materieller Basis alternative Arten der Weltbeschreibung zu entwerfen und anzubieten“, eine „emanzipatorische Kraft“ (NL 365) zu finden. Damit waren zwei Gefahren verbunden, denen nur dadurch zu begegnen war, dass sie in den Produktionen selbst durch ausdrückliche Analyse, Kontextualisierung und Selbstreflexion angesprochen wurden: zum einen die Gefahr, in der „Faszination für das Ruinöse, Aufgelassene, Vergessene“ eine romantische „Sehnsucht nach alternativen Traditionen und der Möglichkeit einer anderen Gegenwart“ zu wecken (NL 371), und zum anderen die Gefahr, auf diese Weise auch zum Bestandteil im „Instrumentarium neoliberaler Stadtpolitik“ zu werden, „für die Standortkonkurrenz, innerstädtische Sicherheits- und Ausgrenzungsdispositive und die Konstruktion von Erlebniswelten wichtig sind“ (NL 369). Diesem Dilemma konnten die Theaterschaffenden von „Schauplatz International“ nur begegnen, indem sie selbst offenlegten, dass sie „in einer seltsamen Dialektik“ (NL 372) standen: jener „von Kritik und Komplizenschaft mit politischen Prozessen, die zu kritisieren die Stücke angetreten sind“.

Europa von Murmansk bis Istanbul

Diese Erfahrungen und Einsichten bleiben in Europa, Tektonik des Kapitals und Henzi Sulgenbach auf unterschiedliche Art präsent. Im Gedichtband sind 88 Gedichte je einem Ort in Europa gewidmet. Dieses Europa erstreckt sich von Murmansk im hohen Norden bis Istanbul im Süden und reicht so deutlich weiter als das wirtschaftspolitische Gebilde der Europäischen Union. Es ist das Europa von den „Spitzbergen bis Sizilien und von Gibraltar bis zum Ural“ 11, das de Gaulle 1960 als Frankreichs Staatspräsident dem US-amerikanischen Einfluss entgegenzuhalten versuchte und das Gorbatschow als Staatspräsident der sich auflösenden Sowjetunion nach dem Fall der Mauer wieder in Erinnerung rief.

Jeder Ortsname wird mit einer Zahl verbunden, „Murmansk / 2830“, „Istanbul / 1837“, und im Verlauf der Lektüre wird klar, dass diese Zahl jeweils die Kilometer angibt, die den betreffenden Ort von Bern, dem Wohnort des Autors, trennen. Im Fortgang der Lektüre werden diese Zahlen immer kleiner, nimmt die Distanz nicht nur zu Bern, sondern zur Wohnung des Autors ab – mit „Lorraine / 1“ im zweitletzten Gedicht noch einen Kilometer von dieser Wohnung entfernt –, so dass die kontinuierlich enger werdende Spirale schließlich im Punkt „0:00“ am Schreibtisch des Autor-Ichs endet, und zwar im Flimmern auf dessen Computerbildschirm. Offenbar war es einem regelmäßig angesprochenen Du nur am Computer übers Internet möglich, auf dem ganzen Kontinent hin und her zu surfen, von Nord bis Süd und von Ost bis West.

Darauf, dass die Ortsveränderungen und -beschreibungen am Computer stattfinden, verweist schon das erste Gedicht „Murmansk / 2830“. Es kann als Ankündigung gelesen werden, dass alle weiteren Ortsbilder des Gedichtbandes nicht der unmittelbaren Begegnung mit einem Ort bzw. einer Landschaft entspringen, wie man dies in der herkömmlichen Lyrik – von der Naturlyrik des 18. Jahrhunderts bis zu den Stadtgedichten des Expressionismus – gewohnt war. Die Orte dieser Gedichte sollen offenbar von vornherein als Erzeugnisse in jenem Doppelsinn gelesen werden, den Bieri in seiner Dissertation für das dargelegt hat, was als Landschaft gilt: hervorgebracht und modelliert durch die technisch-ökonomische Lebensform der Moderne und ins Bild gefasst aufgrund menschlicher Wahrnehmung, hier einer technisch vermittelten. Indem Bieris Gedichtband dieses Erzeugtsein der Orte seiner Gedichte ankündigt, weist er darauf hin, dass es ihm nicht bloss darum geht, literarisch zu illustrieren, was auch in Diskursen der Wissenschaften, der Medien und der Politik festgehalten wird. Wie er dies macht, lässt sich gerade am ersten Gedicht, „Murmansk / 2830“) beispielhaft aufzeigen.

Anlass zu Melancholie

Nicht von ungefähr gibt er diesem Gedicht die Kunstform des Sonetts, das zwar weder Reime noch feste Silbenzahlen kennt, im Aufbau der Strophen und in den Zeilenbrüchen aber einem strengen Formprinzip gehorcht:

Murmansk / 2830

Die Rauschschwaden über Murmansk
kennst du nur von Videos in HD und
time laps, alle Farben polarer Nächte,
Fahnen aus Kohlenmonoxyd und Staub.

Oder Reste der Essenwälder über dem
Ruhrgebiet, die Schleier aus den Schloten,
Zeichen von Inversion und Zerfall,
Signaturen eines Zeitalters.

Flammen und der Upstream, nachts
auf deinem Bildschirm, glitzernde Nebel
der Raffinerien, glühender Schnee: Zauber,

den du wirst wiedersehen wollen, wenn
nach dem Peak nichts mehr brennt,
vergeht und nicht mehr wiederkehrt. (ET 7)

Mit „Rauchschwaden“, „Fahnen aus Kohlenmonoxyd und Staub“, „Schleier aus Schloten“ werden in den beiden Quartetten des Aufgesangs Bilder einer massiven Luftverschmutzung evoziert, am Himmel sichtbare „Zeichen von Inversion und Zerfall“, die als „Signaturen eines Zeitalters“ zu lesen sind, nämlich jenes der modernen Industriegesellschaften mit ihren allgegenwärtigen Umweltschäden: im ersten Quartett am Himmel der russischen Hafenstadt im Polarkreis, Sitz einer grossen Flotte von Atomeisbrechern und eines Trusts zur Erkundung und Ausbeutung von Erdöl- und Erdgasfeldern in der Arktis, im zweiten Quartett an jenem „über dem Ruhrgebiet“, das aufgrund seiner Kohlevorräte – „Reste der Essenwälder“ – und der darauf aufbauenden Montanindustrie in den vergangenen zweihundert Jahren zum größten industriellen Ballungsraum Deutschlands geworden ist.

Die beiden Quartette erfüllen so die herkömmliche Funktion des Aufgesangs in einem Sonett: Darlegung des Sachverhalts, um den es geht, gezeigt, in Kontrast und Analogie, anhand zweier weit auseinanderliegender Gebiete, die jedes auf seine Art den verheerenden Wirkungen der Gewinnung und Nutzung fossiler Energie ausgesetzt sind. Etwas ambivalent wird diese Darlegung der Umweltschäden aber schon dadurch, dass sie in beiden Quartetten leicht verfremdet wird: im ersten Quartett durch die mediale und elektronische Vermittlung über „Videos in HD“ und die Verlangsamung in „time laps“, im zweiten durch die kommentierende Rede von „Zeichen“ und „Signaturen“ und die Verwendung mehrerer rhetorischer Mittel: die Assonanz in „Reste der Essenwälder“, die Alliteration in „Schleier aus Schloten“ und das Wortpaar in „Inversion und Zerfall“.

Diese Ambivalenz lässt die darauffolgende Wendung im Abgesang vorausahnen: Die „Flammen“ im ersten Terzett können zwar noch eine natürliche Gegebenheit benennen, „Upstream“ aber beinhaltet den Aufstrom der Rauch- und Staubschwaden nur noch als Mitbedeutung und meint in erster Linie die Verbindung des Internetkunden zum Server. Mit dieser Versetzung der Bilder in den Bereich der Elektronik geht ihre durch die rhetorischen Mittel im zweiten Quartett angekündigte Ästhetisierung einher: Das erste Terzett spricht nun vom „glitzernde[n] Nebel der Raffinerien“, von „glühende[m] Schnee“ und gar von „Zauber“, das zweite Terzett lässt in seinem ersten Vers gleich viermal den gleichen Anlaut erklingen („wirst wiedersehen wollen, wenn“), endet im seinem letzten Vers mit einem Chiasmus im Binnenhalbreim („vergeht“ – „wiederkehrt“) und kündigt obendrein an, der Adressat der Rede, das Du, werde diesen Zauber wiedersehen wollen, wenn „nach dem Peak“ – der Spitze des Verbrauchs von fossiler Energie – „nichts mehr brennt“.

Wenn das Gedicht es mit den ersten beiden Quartetten bei den Bildern der Luftverschmutzung über den zwei Industriegebieten Europas beließe, würde es sich mit einer formal und sprachlich effektvollen Illustration dessen begnügen, was wir aus anderen Quellen über diese Umweltschäden erfahren können. Indem es aber deren Bilder nicht nur als digital übers Internet vermittelte Darstellung kennzeichnet, sondern auf provozierende Weise ästhetisiert und gar zum Objekt künftiger Nostalgie erklärt, versetzt es das angesprochene Du in einen verstörenden Zwiespalt: „nachts / auf deinem Bildschirm“, sieht es im ersten Terzett die Umweltschäden im flimmernden Zauber und im zweiten erfährt es, dass es diesen gar vermissen wird, wenn er einst „nicht mehr wiederkehrt“. Das Gedicht macht uns so nicht nur auf die Umweltschäden aufmerksam, sondern auch darauf, wie sehr wir am schönen Schein der Lebensbedingungen hängen, die sie hervorbringen, so dass wir uns jetzt schon die Sehnsucht vorstellen können, die ihr künftiger Verlust mit sich bringen wird.

Was verlorenzugehen droht, der verheerende Industrialismus des 19. und 20. Jahrhunderts, verdient an sich keine Wiederherstellung, er kann aber aufgrund seiner Errungenschaften doch in dem Maße vermisst werden, wie sich deren Verlust bemerkbar macht. Das ist Anlass zu Melancholie im Sinne Sigmund Freuds: Während der Trauernde im „Realverlust“ des Objekts seiner Liebe nur noch den Wert sieht, den es für ihn hatte, steht der Melancholiker in einem „Ambivalenzkonflikt“12, empfindet neben Liebe auch Hass in Bezug auf etwas, dessen Verlust er nicht genau benennen kann: „So würde uns nahegelegt, die Melancholie irgendwie auf einen dem Bewusstsein entzogenen Objektverlust zu beziehen, zum Unterschied von der Trauer, bei welcher nichts an dem Verluste unbewusst ist.“13 In „Murmansk / 2830“ zeigt sich das darin, dass unbestimmt bleibt, wie der Verlust sich vollziehen wird: „wenn / nach dem Peak nichts mehr brennt“ könnte ebenso auf einen künftigen Umweltkollaps hindeuten wie auf den kontrollierten Ausstieg aus der fossilen Energie im Rahmen einer Umkehr in der gesamten Beziehung zwischen Mensch und Natur.

Der Text bleibt offen nicht nur in Bezug auf die Frage, wie er zu den angesprochenen Umweltschäden steht, sondern auch daraufhin, wie das angesprochene Du seine „Ambivalenzkonflikte“ in der Alternative zwischen Festhalten am schönen Schein oder Widerstand gegen die Umweltkatastrophe, Umweltkollaps oder Wende in der Beziehung zwischen Mensch und Natur lösen könnte. In dieser Offenheit äußert sich sein ökokritisches Potential nicht darin, dass er Stellung nimmt und „das Wissen anderer Disziplinen […] nur in anderer Weise illustriert“, sondern indem er „in der Inszenierung der spannungsreich erlebten Interdependenz und Differenz von Kultur und Natur“14 über die objektivierbaren Ansprüche der Wissenschaften hinaus „eine eigenständige selbstreflexive Form des Lebenswissens“ hervorbringt.

Das Motiv der Melancholie wird zum Schluss des Gedichtbandes wieder angesprochen. Die Rückkehr an den Schreibtisch des Autors, den Ausgangspunkt der ganzen Erkundung Europas am Computer, wird im letzten Gedicht als „Sturz nach innen oder wohin, / nach draußen, in eine Nacht ohne Licht“ (ET 94) beschrieben. Das erinnert an jene „Regression der Libido ins Ich“15, die Freud neben Verlust und Ambivalenz als dritte Voraussetzung der Melancholie bezeichnet: Die Regression besteht darin, „dass die bedrohte Libidobesetzung endlich das [vermisste, D.R.] Objekt verlässt, aber nur um sich auf die Stelle des Ichs, von der sie ausgegangen war, zurückzuziehen“16. Nur dass dieses Ich im ganzen Verlauf des Surfens durch Europa ja ein Du war, wie es nun auch hier und zum letzten Mal angesprochen wird:

du dehntest dich aus, du schwandst und
wusstest nicht, wo bin ich, wo bin ich hin,
wo werde ich mich finden, denn ein Ort

war das nicht mehr, und ein Wort dafür
fehlte dir auch, du dachtest nicht nach,
Flackern, der letzten Kraft wegen, Flackern. (ET 94)

Das Ich erscheint nicht unmittelbar als solches des Autors, sondern als jenes Du, das sich nun in Ich-Form fragt, wo es ist, wo es sich findet, während es im Flackern des erlöschenden Bildschirms verschwindet. So erscheint die Spiralbewegung, die im fernen Murmansk beginnt und am Schreibtisch des Autors endet, nicht nur als Suche eines surfenden Du nach Europa und der Tektonik des Kapitals, sondern in dieser auch als solche nach seinem Ich. Dieses entzieht sich dem Bewusstsein des Du so wie der Objektverlust des Melancholikers dem seinen.

Während die Alten Meister der Renaissance in ihren Stillleben den Globus als Symbol für die Eitelkeit und Endlichkeit des Irdischen darstellten, erscheint in Bieris Gedichten die Erkundung Europas durchs Internet und auf Google Earth als vergeblicher Versuch eines Du, sich in einer aufgrund des ökologischen Desasters ihrem Untergang nahen Welt seines Ichs zu versichern. Der Melancholiker der Renaissance brütete an seinem Schreibtisch über dem Globus, derjenige des Internetzeitalters sinniert am Computer. Der Erstere empfand die Nichtigkeit seiner brüchig gewordenen Welt gegenüber der verheißenen Apokalypse, der Letztere erahnt sie angesichts der anstehenden Zeitenwende aufgrund der gegenwärtigen Umweltkatastrophe.

Bestimmende Funktion des Kapitals

Diese Reminiszenz sollte aber auf keinen Fall unterstellen, dieser Gedichtband lasse sich mit einer Metaphysik irgendwelcher Art in Verbindung bringen. Schon sein Titel kündigt ein Weltbild ganz anderer Art an: Europa, Tektonik des Kapitals lädt eher zu einer Lektüre vor dem Hintergrund der marxistischen Tradition des 19. und 20. Jahrhunderts ein. Dazu gibt unter anderem auch die Tatsache Anlass, dass Bieri 2007 in Bern das Puppentheaterstück Karl Marx. Leben und Werk schrieb und dieses – wenn auch als „Kasperlitheater von Prinz Mägerli“17 – zur Aufführung brachte.

Durch das Attribut „des Kapitals“ wird die Tektonik Europas ganz im Sinn des Marxismus mit dem Kapital verbunden, und zwar gleich in der vierfachen Bedeutung des Genitivs: Im genitivus possessivus erscheint das Kapital als ihr Besitzer, im genitivus qualitatis als eine ihrer wesentlichen Eigenschaften, im genitivus subjectivus als ihr Erzeuger und im genitivus objectivus umgekehrt als ihr Erzeugnis, was es in historischer Hinsicht auch durchaus ist. Die Zweiteilung des Titels verbindet Europa und seine Tektonik in zweifacher Weise: Das Komma zwischen den beiden Teilen kann anstelle eines „und“ stehen, so dass gemeint wäre: Europa und die Tektonik des Kapitals. Möglich ist aber auch, dass dieses Satzzeichen den zweiten Teil zur Apposition des ersten macht, das hieße: Europa ist die Tektonik des Kapitals. In beiden Fällen behält das Wort „Tektonik“ seinen eigenen Doppelsinn, meint also einerseits im Sinn der Geologie den Aufbau der Erdkruste und deren geodynamische Bewegungen, andererseits in jenem der Etymologie eine Aufbaustruktur allgemein. Entscheidend bleibt für alle Fälle die bestimmende Funktion des Kapitals: Der Titel des Gedichtbandes lässt Europa als Kontinent erscheinen, der bis in seine Erdkruste und geodynamischen Bewegungen hinein und in seiner ganzen übrigen Struktur vom Kapital bestimmt wird.

Eine weitere Bedeutung der „Tektonik des Kapitals“ ergibt sich dort, wo dieser Begriff auch in einem Gedicht auftaucht. Das geschieht im dritten Text des Bandes, „Die Nordanatolische Verwerfung / 1836“:

Die Nordanatolische Verwerfung / 1836

Sie wissen, was kommt:

Leere Häuser,
wenn sie noch stehen,

schwarze Fenster,
Schutt in den Türen,

gebrochener Stein,
abgebrochene Leben.

Tarlabasi kommt.

Warum zeichnen sie noch
Karten der Unruhe.

Die Tektonik des Kapitals
wohnt doch in ihnen. (ET 9)

Gleich zu Beginn stellt sich die Frage, wer dieses „sie“ ist: Ein „Sie“ der Anrede oder ein „sie“ der dritten Person Mehrzahl? In der neunten Verszeile wird deutlich, dass Letzteres gemeint ist, aber bis dahin sehen sich auch die Lesenden direkt angesprochen und verfolgen mit Spannung die lakonische Aufzählung von Merkmalen einer zerstörten Siedlung, der sie sich nähern. In der achten Verszeile, der zweiten Verswaise, wird die offene Frage, „was kommt“ aus der ersten beantwortet: „Tarlabasi kommt.“

Wer sich auf dem Internet informiert, erfährt, dass Tarlabasi seit dem Ende des erstens Jahrzehnts des neuen Jahrtausends und bis heute ein symbolträchtiges Beispiel der gewaltsamen Gentrifizierung eines heruntergekommenen Stadtteils von Istanbul ist. Schon im Oktober 2009 hat die deutsche Welt im Lead eines längeren Artikels angekündigt: „Der alte Stadtteil Tarlabasi wird abgerissen, luxuriöse Neubauten sollen entstehen. Das dunkle, einst gefährliche Viertel birgt zahlreiche Geschichten. Viele Bewohner würden gern bleiben.“18 Und das Online-Magazin dis:orient schreibt im Juli 2017 im Lead zu einem längeren Beitrag:

Istanbul ist Schauplatz einer aggressiven Stadterneuerungspolitik. Steigende Immobilienpreise im Zentrum drängen einkommensschwache Familien an den Stadtrand. Die ursprünglichen Einwohner der gentrifizierten Viertel sind die Verlierer urbaner Projekte – Istanbul entwickelt sich mehr und mehr zu einer Stadt für die Reichen.19

Der Beitrag auf dis:orient führt aus, wer alles jene „sie“ sein könnten, die sich dem Stadtteil nähern:

Investoren kaufen zunehmend Gebäude, die sich nicht in der umzäunten Zone befinden. Sie setzen darauf, dass das Viertel nach Abschluss des Projekts auch außerhalb des abgezäunten Gebiets an Beliebtheit gewinnt. […] In der Zwischenzeit haben sich Drogenhändler und Sexarbeiter in den leerstehenden Häusern niedergelassen. Hier können sie ungestört ihren Geschäften nachgehen – zumindest, bis das Gebäude abgerissen wird. […] Die zwei Baufirmen Gap İnşaat und Çalık Gayrimenkul sind mit dem Projekt betreut. Sie gehören zur Çalık Holding, einem Unternehmen, das für seine enge Allianz mit der Regierungspartei AKP und Präsident Recep Tayyip Erdoğan bekannt ist. Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak selbst war Geschäftsführer der Holding, bevor er in die Politik ging und unter der AKP Minister für Energie und Rohstoffe wurde.20

Investoren, Drogenhändler und Zuhälter, Baufirmen, Großunternehmer und Politiker, sie alle „zeichnen noch / Karten der Unruhe“, obwohl: „Die Tektonik des Kapitals / wohnt doch in ihnen.“ Hier wird mit der Tektonik des Kapitals gleich ein Vierfaches angesprochen: a) die neuen Betonbauten, Auswüchse der Lithosphäre, des steinernen Erdmantels, b) die mehrfache Schichtung im Filz von Großunternehmen, Politik und Unterwelt, c) der Gegensatz dieser Profiteure zur herkömmlichen Bevölkerung des Stadtteils und schließlich d) die Raum-, Stadt- und Bauplaner, in deren Gehirn die „Tektonik des Kapitals“ im ursprünglichen Wortsinn von tektonikós, „die Baukunst betreffend“21, wohnt.

Das Gedicht verweist so in mehrfacher Hinsicht auf das, was schon Karl Marx in seinem Hauptwerk herausgearbeitet hat: Im Kapitel über „Maschinerie und grosse Industrie“ verweist Das Kapital auf die zunehmende Verstädterung, die mit der kapitalistischen Industrialisierung einhergeht, auf das „stets wachsende[.] Übergewicht der städtischen Bevölkerung, die sie in großen Zentren zusammenhäuft“22, was „den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde“ stört, das heißt

die Rückkehr der vom Menschen in Form von Nahrungs- und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbestandteile zum Boden, also die ewige Naturbedingung dauernder Bodenfruchtbarkeit. […] Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen

Reichtums untergräbt: die Erde und die Arbeiter.23

Im Kapitel über „Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ zeigt Das Kapital dann auch schon für die Mitte des 19. Jahrhunderts auf, was heute „Gentrifizierung“ genannt wird und in Bieris Gedicht angesprochen wird:

Die den Fortschritt des Reichtums begleitende ‚Verbesserung‘ (improvements) der Städte durch Niederreißen schlecht gebauter Viertel, Errichtung von Palästen für Banken, Warenhäuser usw., Streckung der Straßen für Geschäftsverkehr und Luxuskarossen, Einführung von Pferdebahnen usw., verjagt augenscheinlich die Armen in stets schlechtere und dichter gefüllte Schlupfwinkel. Andererseits weiss jeder, daß die Teuerkeit der Wohnungen im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Güte steht und daß die Minen des Elends von Häuserspekulanten mit mehr Profit und weniger Kosten ausgebeutet werden als jemals die Minen von Potosi. […] Auch der bessergestellte Teil der Arbeiterklasse, zusamt Kleinkrämern und andern Elementen der kleinen Mittelklasse, fällt in London mehr und mehr unter den Fluch dieser nichtswürdigen Behausungsverhältnisse, im Maße, wie die ‚Verbesserungen‘ und mit ihnen die Niederreißung alter Straßen und Häuser fortschreiten, wie Fabriken und Menschenzustrom in der Metropole wachsen, endlich die Hausmieten mit der städtischen Grundrente steigen.24

Ungleiches im Gleichen

Was im Gedicht mit „Tarlabasi“ angesprochen wird, wer „sie“ sein könnten und was mit der „Tektonik des Kapitals“ hier gemeint sein könnte, erschließt sich den Lesenden erst, wenn sie sich auf dem Internet erkundigen und die einschlägigen Zeitungsberichte zu diesem Stadtteil Istanbuls lesen. Das kennzeichnet die meisten der Gedichte in Europa, Tektonik des Kapitals, wie dies schon der erste Rezensent des Gedichtbandes, Fredi Lerch, bemerkt hat:

Leicht lesen sich die Gedichte […] nicht. Eines zum Beispiel heisst „Josetti / 752“. Darin geht es darum, dass „Farocki […] den Kontrapost in den Kolonnen / kommender Arbeiter“ sah, und daneben um „Spolien“ und einen „Kritios-Knabe[n]“, die im Text herumstehen. Nach einer Viertelstunde Surfen und dem Kontrollcheck mit dem Entfernungsberechner bin ich unterdessen der vollendeten Überzeugung, dass Bieri hier über Berlin sprechen muss.25

Tatsächlich scheint Bieri geradezu darauf zu zählen, dass seine Gedichte sozusagen vor dem Bildschirm gelesen werden, so dass sich die Lesenden sofort über Google, Google Earth und andere Suchmaschinen und auf verschiedenen Plattformen darüber informieren können, was da jeweils stichwortartig angesprochen wird. Nicht nur das Du der Gedichte surft so auf dem Internet, sondern auch das mit ihm allenfalls angesprochene Du der Lesenden. Die Intertextualität und Intermedialität greifen über die Arbeit des Autors und die Zitate, Reminiszenzen und Anspielungen im Text hinaus auf die Aktivität der Lesenden. Die entsprechende Dezentrierung der Texte öffnet ihn sowohl zurück auf das, was ihm vorausgeht, wie nach vorn auf das, was mit ihm beim Lesen geschieht. Diese Öffnung geht also noch über jene in „Murmansk / 2830“ beobachtete hinaus, wo sie auf der Unentschiedenheit gegenüber den angesprochenen Umweltschäden und dem in Gang gebrachten „Ambivalenzkonflikt“ der Lesenden beruht.

Josetti / 752

Klinker oder Sichtbeton, vereinzelte Schlote,
Gitter, Böden, die wie Erde sind, Felsen.

Was suchst du in den Fabriken? Farocki
Sah den Kontrapost in den Kolonnen

Kommender Arbeiter, du gehst zur, du
kommst von der Kunst. Weißer Rauch

und Kacheln, deine Individualindustrie
liegt am Boden, die Spolien

deiner Zeit, Kritios-Knabe, der Knick im
Schutt unter deinesgleichen. (ET 20)

Selbst wer die Stichworte klassischer Bildung, „Kontrapost“, „Spolien“ und „Kritios-Knabe“ zu kennen meint – auch wenn er sich noch einmal auf dem Internet vergewissern muss – sieht sich als Nicht-Berliner auf jeden Fall veranlasst, am Computer zu ermitteln, dass mit „Josetti“ das Gebäude der Zigarettenfabrik Josetti in Berlin-Mitte gemeint ist, das heute als „Josetti-Höfe“ denkmalgeschützt ist26, und dass mit „Farocki“ und den „Kolonnen / kommender Arbeiter“ der Film Arbeiter verlassen die Fabrik von Harun Farocki angesprochen wird.27 Nur so wird verständlich, was mit der Frage „Was suchst du in den Fabriken“ gemeint ist: Vom 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts waren die Josetti-Höfe ein Gebäudekomplex massenhafter Konzentration von Arbeiterinnen und Arbeitern, heute werden sie von „namhaften Vertreter[n] aus der Medien und Finanzbranche“28 angemietet, die sie „als Plattform kreativer Arbeit in Berlin“ anpreisen: „selbstbestimmt, mobil, flexibel, kommunikativ“29. Erst vor diesem Hintergrund wird der Spott des Gedichts über die „Individualindustrie“ verständlich: Wer heute in den Josetti-Höfen verkehrt, ist gewiss im ursprünglichen Wortsinn von ,industrius‘ regsam, fleißig und geschäftig, ob nun im Kunst-, Medien- oder Finanzbereich, hat aber nichts mehr zu tun mit der mechanisierten Massenproduktion der industriellen Blütezeiten.
Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, die Bieri schon in den Produktionen von „Schauplatz International“ suchte (NL 364), stellt er nun auch in den Gedichten immer wieder her. In „Josetti / 752“ geschieht dies, wie gezeigt, durch das Ineinanderspielen von Reminiszenzen sowohl an die klassische Bildung, die mit „Spolien“ in die Antike und mit „Kontrapost“ in die Renaissance zurückreichen, wie an die Großindustrie des 19. und 20. Jahrhunderts mit ihren „Schloten“ und „Kolonnen“ von Arbeitermassen, wie schließlich an die Gegenwart mit der „Individualindustrie“ in den heutigen Formen des postindustriellen Wirtschaftens, die von der Hochfinanz bis zur Kultur alles durchdringen.
In dieser „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ der Gedichte Bieris liegen auch die von Lerch monierten Verständnisschwierigkeiten begründet. Nach Reinhard Kosellek kündigt sich schon im 18. Jahrhundert die Schwierigkeit an, mit dem Nebeneinander von Begriffen der Tradition und solchen der Moderne zu Rande zu kommen: „rückwärtsgewandt meinen sie soziale und politische Sachverhalte, die uns ohne kritischen Kommentar nicht mehr verständlich sind, vorwärts und uns zugewandt haben sie Bedeutungen gewonnen, die zwar erläutert werden können, die aber auch unmittelbar verständlich zu sein scheinen.“30
Im Festhalten an Begriffen, Orts- und Personennamen, die sich erst mit Hilfe eines erläuternden Kommentars verstehen lassen, bringt Bieri das Ungleichzeitige und Ungleichräumige zur Geltung, das der Gleichzeitigkeit und Gleichräumlichkeit in der Logik des Kapitals widersteht. In dessen Ordnung zählt in erster Linie der Tauschwert der Dinge und der Arbeitskräfte, der ihnen Konvertibilität verleiht, ihre gleiche Gültigkeit. Und diese schliesst eben auch Gleichgültigkeit ihren je besonderen Qualitäten gegenüber ein, obwohl diese zugleich grundlegend sind für ihren Erfolg auf dem Markt und damit auch in der auf diesen ausgerichteten Produktion. So liegt die Tektonik des Kapitals letztlich wesentlich im Widerspruch der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, der Gleichräumlichkeit des Ungleichräumigen und allgemeiner auch der Gleichförmigkeit des Ungleichförmigen begründet, während Bieris Gedichte gerade auf Ungleichem im Gleichen insistieren.
Diese Widersprüche in der Tektonik des Kapitals können geologische Gegebenheiten als Teil des ganzen Kreislaufs im Stoffwechsel von Mensch und Natur ebenso betreffen wie die Struktur des Kapitals „als sich selbst verwertende[n] Wert[s]31, eines „Zwangsverhältnis[ses]32, das nach Marx „die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und die Arbeiter33. Darauf bedacht, die Logik des Kapitals freizulegen, ist Marx ihr in seiner „Kritik der politischen Ökonomie“ jedoch insofern zu sehr gefolgt, als er immer wieder trennt, was aus ökokritischer Sicht untrennbar ineinander verschlungen ist: „Der Mensch und seine Arbeit auf der einen, die Natur und ihre Stoffe auf der andren Seite genügten“s34 ihm. Indem Bieri in seinen Gedichten der Tektonik des Kapitals – im mehrfachen Sinn des Ausdrucks – nachgeht, dessen Gleichzeitigkeit mehrere verschiedene ungleiche Zeiten und der Gleichräumlichkeit eine Großzahl ungleicher Orte entgegenhält, stellt er gerade das ins Zentrum, was Marx nur am Rande berührte, und schafft jene „Inszenierung der spannungsreich erlebten Interdependenz und Differenz von Kultur und Natur“, die nach Hubert Zapf grundlegend ist für jene „eigenständige, selbstreflexive Form des Lebenswissens“35 der Literatur, die er im Hinblick auf die „kulturökologische Funktion des literarischen Diskurses innerhalb der Gesamtkultur“36 postuliert.

Fern und hier, einst und jetzt

Das sei nun noch auszugsweise an weiteren Gedichten des Bandes aufgezeigt. Fünf Gedichte mit jeweils vier Terzinen sind „Europa / 1382ff.“ gewidmet und – unter anderem – der unterschiedlichen Weise, wie die kapitalistische Wirtschaft die größtmögliche Mobilität über den ganzen Kontinent hinweg zu einem maßgeblichen Motor ihres Funktionierens macht. Das kann den Tourismus, „die letzte europäische Utopie vom guten Leben“ und zugleich „Kontinentalkatastrophe“ (ET 10), ebenso betreffen wie die Saisonniers aus Polen in der Schweiz, „Warschau […] in den Feldern bei Brüttelen, Ins, Kerzers“ im schweizerischen Seeland, Beispiel für „die Dialektik von Melioration und Zerstörung“ (ET 13).

Wortpaare wie „Melioration und Zerstörung“, die in rhetorischer Zuspitzung die Widersprüchlichkeit angesprochener Realitäten auf den Punkt bringen, finden sich gerade in diesem kleinen Zyklus „Europa / 1382ff.“ im Zusammenhang mit der Ambivalenz erhöhter Mobilität besonders häufig. So „Effizienz und Destruktion“ im „Plastikmeer von Roquetas“ (ET 14), an der andalusischen Mittelmeerküste, „Ikone des dilemmatischen Denkens“ und Beispiel für die „Versorgung und Verzweiflung des Kontinents“, denn: „Jeder Zentimeter / europäischer Erde ist Gefahr und Gewinn.“ (ET 14)

Im ersten Gedicht zu Genf im zehnteiligen Zyklus „Schweiz / 130ff.“ verweist das Wortpaar „Geld und Geschiebe“ (ET 53) auf die Präsenz multinationaler Konzerne und Marken, die in der schweizerischen Bankenstadt zugleich fern und hier sind. „Lynx und Luxury Int. / Danubia“, ein multinationales Unternehmen für Luxusreisen und -hotels, „sei im Irak, westlich kommt die Arve zur Rhone“ (ET 53), während mit dem „Geheimnis der ewigen Flüsse / aus dem Innern der Erde“ (ET 53) nicht Wasser-, sondern der Ölreichtum angesprochen ist, mit dem die Gunvor Group ihre Geschäfte macht. Im Internet stellt sich diese denn auch als, „gemessen am Umsatz, eines der größten unabhängigen Rohstoffhandelshäuser der Welt“ vor, das Logistiklösungen entwickelt, „die physische Energie und Schüttgut sicher und effizient von ihrem Bezugs- und Lagerort dorthin bringen, wo die größte Nachfrage nach ihnen besteht“37.

Das Gedicht „Acheregg / 68“ über den Bau der Autobahnen in der Schweiz hält die Zeit ihrer Planung und ihres Baus in den 1950er/60er Jahren ihrer heutigen starken Frequentierung entgegen:

Auf alten Bildern sehen Autobahnen schön aus.
Fein und schön, Bleistift auf Landschaft;

[…]

Hier legten die Planer ein Kreuz über die Schweiz.
Es war niemandem Last, sondern Versprechen,

Fotographie und Fiktion. Straßen wie Hiebe
in die Topographie einer nationalen Selbstskepsis

aus Berg, See und Tal: der Territorialkörper. Vielleicht
weil sie so leer waren, sahen sie so schön aus. (ET 67)

Der Gegensatz von Schein in der Planung („Fein und schön“) und Sein in der Realisierung („Hiebe / in die Topographie“) war schon vor einem halben Jahrhundert offenbar und wird nun aus heutiger Sicht mit den Luft- und Lärmbelastungen des Autoverkehrs noch übertroffen.

Diese Gegenüberstellung von einst und jetzt (und manchmal dereinst) ist ein geradezu tektonisches Leitmotiv im literarischen Schaffen Bieris und ermöglicht ihm – auch bei den Lesenden – eine Reflexion im Doppelsinn in Gang zu setzen: wechselseitige Spiegelung früherer und heutiger (und manchmal auch künftiger) Gegebenheiten in ihren Analogien und Differenzen und betrachtende Prüfung derselben. Beispielhaft etwa in „Ledi / 53“, in Wengen im Berner Oberland, mit der Gegenüberstellung der früheren Begeisterung des Du über den „Biorealismus“ der Rentsch-Villa von „Neutra“, dem amerikanischen Star-Architekten Richard Neutra, und der jetzigen Lektüre von „Vennemann“, dem Geochemiker Torsten W. Vennemann am Institut für die Dynamik der Erdoberfläche der Universität Lausanne, der an das Problem des Energiehaushalts in den wunderbar transparenten und leichten Bauten Neutras erinnert. Oder in „Mühleberg / 14“, Ort des ersten stillgelegten Atomkraftwerks in der Schweiz, in der Erinnerung an das Wasserkraftwerk am selben Ort, 1917-1920 gebaut und vom Berner Schriftsteller Rudolf von Tavel als „Denkmal / der Tatkraft und Pflichttreue der Männer, / der leitenden und der Arbeiter“ (ET 82) gefeiert, während das Du sich heute – vor der Stilllegung des AKWs – fragt: „Was bist du in dieser Falle, in der du sitzt / und mit dir deine Stadt?“ (ET 82)

Und schließlich das Gedicht „Allmend / 2“ über eine der letzten großen Grünzonen in Bern, „zwei, dreihundert Schritt / gesparte Freiheit bis zur Autobahn“ (ET 85), die dem Du Anlass gibt, über die vergangenen – jahrzehntelangen – und künftigen Kämpfe zur Erhaltung dieser Zone halbwegs geschützter Natur in nur zwei Kilometer Entfernung von seiner Wohnung nachzudenken:

Etwas kehrt in dich zurück. Die Jahreszeiten und die Jahrhunderte.
Was bedeutet dir all das, was du teilst und nimmst und gibst,
wo du verschwindest, vor Weite, vor Wärme?

Glaub nicht an Theorie, glaub an eine andere und an den nächsten Sieg.
Gras wächst über Unrecht und Kampf. Über diesen nächsten auch.
Wächst im März auf den Allmenden. (ET 85)

Mit der Beobachtung, dass „etwas“ ins Du zurückkehrt, nämlich die über „Jahreszeiten und die Jahrhunderte“ hinweg vergehende Zeit, weckt dieses Gedicht schon jene Melancholie, die dann auch zum Schluss des Gedichtbandes in „0:00“ wieder vorherrscht. Wenn „Gras wächst“ über etwas, fällt es dem Vergessen anheim, kann zu Trauer angesichts des Verlorenen, aber auch zu Trost angesichts des neu Entstehenden Anlass geben. Der Trost wird im letzten Vers verstärkt, denn das Gras „wächst im März auf den Allmenden“, und der Sprecher im Gedicht scheint das ,Gras wachsen hören‘ zu können, ist informiert, wie die Redewendung besagt, ahnt ebenso geheime Dinge wie das, was kommt, und macht sich Gedanken darüber.

Dieses Ahnen des geheimnisvollen Ineinanders von Vergangenem, Gegenwärtigem und Künftigem zeigt sich vor allem auch im Gedicht „Senne / 489“ über den belgischen Fluss dieses Namens, der in Brüssel im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts vollständig zugebaut worden ist:

Senne / 489

Welchem Rätsel folgt dein Weg, wenn nicht
der Neuigkeit: Es gibt einen Fluss in der Stadt.

Du wüsstest nicht einmal, wo ihn suchen. Innen
irgendwo, wo Abschied war und auf Wiedersehen.

Dort produziert der Fortschritt das Obskure
als Entwurf und Plan, als Begradigung.

Der Wahnsinn will Ordnung und Unsterblichkeit,
später dann den Namen von Straßen, Büsten

und Geometrien, Geschichte im Voraus,
erstes Erinnern. Doch die Senne ist weg.

Das unterirdische Monument entfaltet seinen
übersinnlichen Schrecken in andern Bahnen.

Geheime Spur der Stadt, Schwarz des toten
und des vollen Lebens und dessen, was war

und was draußen ist. Du vergisst, wohin du willst. (ET 30)

In diesen Zweizeilern mit einer Häufung kunstvoller Enjambements im Kontrast zu einzelnen lapidaren Sätzen und schroffen Versenden („Es gibt einen Fluss in der Stadt.“ – Doch die Senne ist weg.“) zeigt sich exemplarisch, wie die 88 Gedichte dieses Bandes ihre ökokritische Wirkung in der Verfolgung von Rätseln entfalten, im fortgesetzten Paradox: ‚Der Neuigkeit folgen‘ heisst verborgene Vergangenheit aufdecken, der Fortschritt produziert das Obskure, der Wahnsinn will Ordnung, Geschichte wird im Voraus geschaffen, die geheime Spur enthüllt das „Schwarz des toten und des vollen Lebens“. Im Paradox, im Gegenlauf zur herrschenden Meinung, schaffen es die Gedichte, das Unerhörte in seiner Ungeheuerlichkeit zu offenbaren: dass da im Lauf der Entwicklung Brüssels zur Weltmetropole das alte Wasserbett eines Flusses ganz zugebaut wurde.

Fortdauerndes Unrecht gegenüber Mensch und Natur

Es ist dieses Motiv eines zugemauerten Wasserlaufs, das auch im literarischen Essay Henzi Sulgenbach eine zentrale Rolle spielt. Der Essay folgt einem Wasser, das in Kühlewil, südlich von Bern am Längenberg entspringt, definitiv eingedolt wird, sobald es in Köniz die städtische Agglomeration erreicht, und im weiteren Lauf nur noch unterirdisch die restliche Hälfte seiner neun Kilometer zurücklegt, „als Bach, den es nicht gibt“ (HS 38), bis es sich in die Aare ergießt. In ihrem Nachwort zum Essay schreibt Ariane von Graffenried, Autorenkollegin Bieris:

Auf dem Land ist noch ein leises Plätschern zu vernehmen, in der Stadt hört man nichts mehr vom Bach, man sieht ihn nicht, er ist weg. Das ist die berührende Tragik dieses Texts. Er erzählt von etwas, das nicht mehr sichtbar ist, aber da: Ein Bach, ein Theaterstück, eine gescheiterte Revolution. (HS 105)

Tatsächlich ist das andere Thema des Essays der gescheiterte Aufstand der nicht regierungsfähigen Bernburger, die sich Ende Juni 1749 versammelten, um die Herrschaft der etwa 80 Patrizierfamilien zu stürzen und die 350 Burgerfamilien an der Stadtregierung beteiligen zu lassen. Der aufklärerische Schriftsteller und Stadtbibliothekar Samuel Henzi wurde als Hauptverschwörer verhaftet und am 17. Juli 1749 hingerichtet. Noch im selben Jahr machte sich der damals 20-jährige Gotthold Ephraim Lessing in Berlin unter dem Eindruck der Geschehnisse an die Niederschrift eines Dramas in Alexandrinern, das den Namen Samuel Henzi tragen und die Tragik eines Menschen darstellen sollte, der „von nichts als dem Wohle des Staats getrieben; […] die Freiheit bis zu ihren alten Grenzen wieder zu erweitern“ suchte und dies „durch die allergelindesten Mittel, und wann diese nicht anschlagen sollten, durch die allervorsichtigste Gewalt“ (HS 5-6). Lessing belässt es bei sechs Szenen und zwei Aufzügen und veröffentlicht diese 1753 als Fragment.

Die Verbindung von Lessing-Fragment und Sulgenbach ergibt sich daraus, dass die Henzi-Verschwörer sich am 25. Juni 1749 am Sulgenbach trafen, in der Sulgenau, dem Berner Stadtteil, wo auch Martin Bieri aufwuchs und wo der Verlag, der seinen Essay publiziert hat, einen kleinen Showroom hat. „Das alles lässt Henzi Sulgenbach, ein Lessing- Implantat ineinander fliessen“ (HS 103), schreibt Bieri im Vorwort zum Essay und führt aus:

Der Text folgt dem Genius Loci und versteht das Verlorengehen des Sulgenbachs als Metapher für das Versiegen eines anderen Textes und für das Scheitern eines Aufstands: Die Revolution bricht ab und geht nicht weiter, ein Stück bricht ab und geht nicht weiter, der Bach bricht ab und geht unterirdisch weiter. (HS 7‒8)

Wie die verschiedenen Orte Europas für den Gedichtband, so wird der Sulgenbach hier für den Essay zum Generator von kulturellem Wissen und kultureller Erfahrung. „Der Text folgt dem Genius loci“, dem Geist, der Atmosphäre und der Aura des Sulgenbachs, indem er sowohl in die Tiefe des Bodens wie in jene der Geschichte bohrt. Das „Implantat“, die „beobachtende Begehung des Sulgenbachs“ (HS 8) folgt deshalb sowohl dem auf weiten Strecken unter der Erde verlaufenden Rinnsal wie der Topographie und der diese mitbegründenden Geschichte der Umgebung bis zurück zur Zeit des hingerichteten Freiheitskämpfers und darüber hinaus, und bemüht sich dabei um Parität mit dem Lessing-Fragment:

Das Henzi-Fragment besteht aus 32‘166 Zeichen. Lessings Dramen umfassen im Durchschnitt 109‘804 Zeichen. Dem Henzitext fehlen also 77‘638 Zeichen. Diese Lücke füllt der neue Text fast auf das Zeichen genau. (HS 8)

So kündigt Bieri an, sich auf die Suche machen zu wollen „nach dem Verschwundenen in Berns Geographie und Geschichte und nach dem immer Verschwindenden im Schreiben.“ (ET 8)

Auf einer dritten Textebene am unteren Seitenrand, eingefasst von Wellen „~ ~ ~“ wie jenen des fließenden Wassers, werden auf jeder Seite Angaben zur jeweiligen Wasserqualität mit physikalisch-chemischen Angaben zu Temperatur, chemischen Elementen und im weiteren Lauf auch wirbellosen Wassertierchen und deren Larven gemacht. So bleibt wie im Untergrund der Stadt auch in jenem der Textseiten der Bach fortlaufend präsent, in einer Art durchgehender Anmerkung, in dem den Text unterhöhlenden „Miniergang“ 38, wie Jean Paul die Fußnoten nannte.

Wesentlich aber in der Verfolgung des Wasserlaufes bleibt, was um und über ihm geschieht und vor allem geschehen ist: „Mit den Toten anfangen. Mit den Vorausgegangenen und Vergessenen, mit den Toten anfangen“ (HS 21), das sind die Insassen der früheren Anstalt in Kühlewil, wo die Quelle des Sulgenbachs liegt. Dann sind es die heimatlosen Korbflechter und Hausierer, die früher im „Margeltäli“ eines Nebenarms des Sulgenbachs Rast machten (HS 43), und schließlich ein Großteil der Könizer Bevölkerung, „300 Junge, Landleute, Untertanen, aber bewaffnet“ (HS 54), die sich im Sommer 1513 gegen die Obrigkeit erhoben und dafür exemplarisch bestraft wurden.

Damit wird deutlich, dass es Bieri mit der Begehung der Landschaft am verborgenen Gewässer um die Nachverfolgung und Wiederbelebung alles dessen geht, was als verschwunden, verloren und nicht zurückholbar gilt wie das eingelochte Rinnsal – ein Motiv, das ja schon im Gedichtband wichtig ist. In der Verbindung der Geschichte Henzis und jener der Außenseiter, Unterdrückten und Aufständischen verschiedener Epochen mit jener des Sulgenbachs und der geologischen, topographischen und sozialen Tektonik seines Umfelds verfolgt Bieri das, was der ökokritische Anglist Patrick D. Murphy als entscheidend für den „Ecocriticism“ betrachtet: dass die literarischen Texte die Haltung ihrer Figuren, Lesenden und Autoren gegenüber der Umwelt verändern, indem sie die moralische Wertschätzung und das Rechtsempfinden, das sie für ausgegrenzte, ausgebeutete und unterdrückte Menschen empfinden, auf die nicht-menschliche Umwelt ausweiten.39 Der Letzteren geht Bieri hier in der Tektonik des Kleinen nach, deren Elemente er mit der präzisen Stratigraphie eines Archäologen registriert, der Schicht um Schicht freilegt, um das aufzudecken, was verschüttet wurde:

Das Terrain beachten, den Bachschuttkegel, das Geländeniveau verfolgen, Neigungen, Abhänge, Abgänge sehen, Schiefen, siltig und sandig, Wölbungen, denen das Wasser folgte, folgen würde. Warum ging es hier nicht rechts, nach Norden? In welcher Senke floss es weiter westlich? Was ist nun eben, was flach, was leichter Sturz, eindeutig und unabwendbar, bis die Planierungsraupen kamen, da waren und mit ihnen eine neue Topographie, erblindeter Boden ohne Balance? Welchen Resten folgen, wohin sich neigen lassen? Wer weiss das noch alles: Schulwege am offenen Bach, Spiele und Arbeit, überschüttete Erinnerung? Und wo liegen diese Landschaften, durch die jetzt unsichtbare Wege führen? (HS 65)

Der Text verbindet verschiedene Zeiten – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – und verschiedene Wissensformen – Wasser- und Bodenkunde, Raum- und Stadtplanung, Ingenieurskunst und Topographie, Geschichte und Soziologie – und lässt die Tektonik des verschütteten und wieder hervortretenden Baches ebenso dynamisch werden wie die Geowissenschaften die Plattentektonik der Erdkruste.

Als Vorbild seiner Begehung des Bachs von der Quelle bis zu seiner verborgenen Mündung in die Aare nennt Bieri die „englischen Wander-Dichter Iain Sinclair und Robert Macfarlane“ sowie den Schweizer Soziologen Lucius Burkhardt, Begründer der kulturwissenschaftlichen und ästhetischen Methode der „Promenadologie“ (HS 8). Als weitere mögliche Vorbilder nennt Ariane von Graffenried den ökokritischen Soziologen Bruno Latour und die Künstlerin Emilie Hermant, die sich der Stadt Paris in Text und Fotografie „als ›ville invisible‹ genähert, ihre verborgene Infrastruktur erforscht und erkannt haben, dass die Komplexität einer Stadt bedeutet, nicht als ganze erkennbar zu sein.“ (HS 105) Bieri geht aber über alle diese möglichen Vorbilder hinaus, indem er die ökologiekritische mit der ökonomiekritischen Betrachtungsweise verbindet und beide dadurch verschärft, dass er ein besonderes Gewicht auf das Ungleichzeitige in der Gleichzeitigkeit und das Ungleichräumige in der Gleichräumlichkeit legt. In Europa. Tektonik des Kapitals wiegt der letztere Gesichtspunkt vor, bringt er die ungleichräumigen Orte Europas gegenüber der Gleichräumlichkeit des Kapitals zur Geltung, in Henzi. Sulgenbach geht es ihm vor allem um den ersteren, lässt er die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der fortdauernden Präsenz des Vergangenen ebenso hervortreten wie die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen in der Erinnerung an vergangenes und fortdauerndes Unrecht gegenüber Mensch und Natur.

Literaturverzeichnis

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Kalnoki, Boris: Instanbuls Räuberhöhle. In: welt.de., 04. 10. 2009. Auf: https://www.welt.de/welt_print/politik/article4727131/Istanbuls-Raeuberhoehle.html (Zugriff 30. 11. 20).
Koselleck, Reinhart: Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit. In: Archiv für Begriffsgeschichte 11. Hamburg 1967, S. 8199
Lerch, Fredi: Am Nullpunkt der Wörterspirale. Journal B, 05. 03. 2015. Auf: http://www.journal-b.ch/de/082013/kultur/1920/am-nullpunkt-der-wörterspirale.htm (Zugriff 30. 11. 20).
Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Erstes Buch. Der Produktionsprozess des Kapitals. In: Ders.: Ökonomische Schriften. Erster Band. Hrsg. Hans-Joachim Lieber und Benedikt Kautsky †. Darmstadt 19712.
Rehm, Walter: Jean Pauls vergnügtes Notenleben oder Notenmacher und Notenleser. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 3. Jg. 1959, S. 244–337.
Zapf, Hubert: Kulturökologie und Literatur. Ein transdisziplinäres Paradigma der Literaturwissenschaft. In: Ders. (Hrsg.): Kulturökologie und Literatur. Beiträge zu einem transdisziplinären Paradigma der Literaturwissenschaft. Heidelberg 2008, S. 15-44.

Webseiten:

https://www.berlin-artist.info/josetti-hoefe/ (Zugriff 30. 11. 20).
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https://gunvorgroup.com/en/ (Zugriff 30. 11. 20).
https://www.harunfarocki.de/de/filme/1990er/1995/arbeiter-verlassen-die-fabrik.html (Zugriff 30. 11. 20).
https://josettihoefe.berlin (Zugriff 30. 11. 20).
https://de.wikipedia.org/wiki/Tektonik_(Begriffsklärung) (Zugriff 30. 11. 20).
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Berlin,_Mitte,_Rungestrasse,_Zigarettenfabrik_Josetti_01.jpg (Zugriff 30. 11. 20).


  1. Edl, Andrea: Vom Ursprung ökokritischen Denkens zu einem kosmopolitanen Ansatz der urbanen Ökokritik. Ort und Raum von der amerikanischen Wildnis bis zur urbanen Dystopie. Frankfurt a.M. 2013, S. 25.
  2. Hahn, Daniela: Einleitung. In: Dies., Erika Fischer-Lichte (Hrsg.): Ökologie und die Künste. Paderborn 2015, S. 9‒27, hier S. 9.
  3. Ebd., S. 10‒11.
  4. Edl, wie Anm. 1, S. 27.
  5. Bieri, Martin: Neues Landschaftstheater. Landschaft und Kunst in den Produktionen von „Schauplatz International“. Bielefeld 2012. Im Lauftext wird mit NL und Seitenzahl in Klammern auf diese Publikation verwiesen.
  6. Bieri, Martin: Europa, Tektonik des Kapitals. Gedichte. München 2015. Im Lauftext wird mit ET und Seitenzahl in Klammern auf diese Publikation verwiesen.
  7. Bieri, Martin: Henzi Sulgenbach. Ein Lessing-Implantat. Mit einem Nachwort von Ariane von Graffenried. Bern 2020. Im Lauftext wird mit HS und Seitenzahl in Klammern auf diese Publikation verwiesen.
  8. Zapf, Hubert: Kulturökologie und Literatur. Ein transdisziplinäres Paradigma der Literaturwissenschaft. In: Ders. (Hrsg.): Kulturökologie und Literatur. Beiträge zu einem transdisziplinären Paradigma der Literaturwissenschaft. Heidelberg 2008, S. 15-44, hier S. 16.
  9. Ebd.
  10. Edl, wie Anm. 1, S. 9.
  11. Vgl. Bachem, Katrin: Charles de Gaulle und Russland. Rheinische-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Wintersemester 2003/2004, S. 4. Auf: http://randau.com/kathrin/Charles%20de%20Gaulle.pdf (Zugriff 30. 11. 20).
  12. Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie [1917]. In: Ders.: Studienausgabe Bd. III: Psychologie des Unbewussten. Frankfurt a.M. 19757, S. 194‒212. Auf: http://www.joachimschmid.ch/docs/PTxFreudSigTraMelan.pdf, Zeile 492 (Zugriff 30. 11. 20).
  13. Ebd., Zeilen 94‒97.
  14. Zapf, wie Anm. 8, S. 23.
  15. Freud, wie Anm. 12, Zeilen 551‒552.
  16. Ebd., Zeilen 515‒517.
  17. Vgl. http://www.martinbieri.net/werk/stuecke/ (Zugriff 30. 11. 20)
  18. Kalnoki, Boris: Instanbuls Räuberhöhle. In: welt.de., 04. 10. 2009. Auf: https://www.welt.de/welt_print/politik/article4727131/Istanbuls-Raeuberhoehle.html (Zugriff 30. 11. 20).
  19. https://www.disorient.de/magazin/gentrifizierung-istanbul-es-war-einmal-ein-ort-der-vielfalt (Zugriff 30. 11. 20).
  20. Ebd.
  21. https://de.wikipedia.org/wiki/Tektonik_(Begriffsklärung) (Zugriff 30. 11. 20)
  22. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Erstes Buch. Der Produktionsprozess des Kapitals. In: Ders.: Ökonomische Schriften. Erster Band. Hrsg. Hans-Joachim Lieber und Benedikt Kautsky †. Darmstadt 1971, S. 594.
  23. Ebd., S. 595 u. 595‒596.
  24. Marx, wie Anm. 22, S. 794‒795 u. 596‒597. Potosi sind Silberminen in Bolivien, sie waren Hauptquelle des spanischen Silbers und seiner Münzprägung vom 16. Jahrhundert bis 1825.
  25. Lerch, Fredi: Am Nullpunkt der Wörterspirale. Journal B, 05. 03. 2015. Auf: http://www.journal-b.ch/de/082013/kultur/1920/am-nullpunkt-der-wörterspirale.htm (Zugriff 30. 11. 20)
  26. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Berlin,_Mitte,_Rungestrasse,_Zigarettenfabrik_Josetti_01.jpg (Zugriff 30. 11. 20).
  27. Vgl. https://www.harunfarocki.de/de/filme/1990er/1995/arbeiter-verlassen-die-fabrik.html (Zugriff 30. 11. 20).
  28. https://josettihoefe.berlin (Zugriff 30. 11. 20).
  29. https://www.berlin-artist.info/josetti-hoefe/ (Zugriff 30. 11. 20).
  30. Koselleck, Reinhart: Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit. In: Archiv für Begriffsgeschichte 11. Hamburg 1967, S. 81‒99, hier S. 82.
  31. Marx, wie Anm. 22, S. 348.
  32. Ebd., S. 347.
  33. Ebd., S. 596.
  34. Ebd., S. 186.
  35. Zapf, wie Anm. 8, S. 23.
  36. Ebd., S. 32.
  37. Vgl. https://gunvorgroup.com/en/: „Gunvor Group is one of the world’s largest independent commodities trading houses by turnover, creating logistics solutions that safely and efficiently move physical energy and bulk materials from where they are sourced and stored to where they are demanded most.” (Zugriff 30. 11. 20)
  38. Zit. nach Rehm, Walter: Jean Pauls vergnügtes Notenleben oder Notenmacher und Notenleser. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 3. Jg. 1959, S. 244–337, hier S. 254.
  39. Vgl. Edl, wie Anm. 1, S. 26.