Dariusz Komorowski, Universität Wrocław
Zurück in die Zukunft oder die ewige Gegenwart. Zur Konstruktion der Vergangenheit in ausgewählten Werken von Kristian Kracht.
But it’s really. Not really, really.1
Im April 1999 treffen sich Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg, Benjamin von Stuckrad-Barre, Joachim Bessing und Christian Kracht zu einer, wie sie es nannten, Konferenz im Berliner Hotel Adlon. Das Ziel des Treffens sei, das Gesetz der Schönheit zu ergründen und Antworten auf weitere Fragen ähnlichen Kalibers zu finden, wie: warum folgen die Teilnehmer eigentlich diesem Gesetz der Schönheit? Was wollen sie überhaupt? Wie sehen sie die Welt? Und was hält ihre Welt im Innersten zusammen? (TR, 11) Dass bei dieser Sinnsuche die Wahrnehmung der Vergangenheit eine bedeutende Rolle einnimmt, bezeugt schon das der Debatte vorausgeschickte Vorwort, in dem Eckhart Nickel direkt das Thema anspricht:
Wir erinnern uns, wie es uns gerade gefällt. Würde man es nicht erlauben, einige wenige Lügen hinzuzunehmen, ich weiß nicht, wie man jemals die Vergangenheit ertrüge. Gott sei Dank, daß es abgesehen vom Augenblick des Geschehens nie so etwas gibt wie irgendeine nackte Tatsache. Zehn Minuten später hat man schon begonnen, die mit einer Art von – Kruste zu überziehen. (TR, 10)
Es wird im Voraus signalisiert, dass man sich nicht des „Wahren“ erinnert, sondern jeweils einer Konstruktion dessen, was war. Im Laufe der „Konferenz“ im Hotel Adlon wird sich zeigen, dass sich nicht nur die Vergangenheit hinter dem Schein des Wahren versteckt sondern auch die Gegenwart. Sogar die Wahl des Tagungsortes im luxuriösen Hotel der deutschen Metropole, in dem die Teilnehmer fünf Einzelzimmer und ein „geräumiges Kaminzimmer – die exekutive Lounge im vierten Stock, mit Blick auf das Brandenburger Tor“ (TR, 11) mieten, mutet etwas seltsam an und erweckt den Eindruck, man habe mit einer Staffage zu tun. Die Hauptfunktion des Hotels als Übernachtungsstätte weicht einer anderen, wo das Adlon als soziales Distinktionsvehikel funktioniert – vor dem Schein des Seins verschwindet das Reale. Mit der so hergestellten Brücke zwischen dem oben angeführten Motto und dem Handlungsort wird auf eines der wichtigen Motive des Schaffens von Kracht hingewiesen – dem Motiv des Lebens in einer ‚medialisierten‘ Scheinwirklichkeit. Dies ist insofern von Bedeutung, als die Medialisierung für einige seiner Texte strukturprägend ist, sich also ästhetisch offenbart.
Eine Schlüsselszene zum Verständnis der Krachtschen Ästhetik wird durch den Blick vom vierten Stock des Hotels Adlon eingeleitet. Ab und zu schauen die Gesprächsteilnehmer auf das Brandenburger Tor hinunter und an einem Nachmittag beobachten sie einen Demonstrationszug Richtung Tor marschieren. Da das Gespräch „über den Stand der Dinge“ sowieso ins Stocken geriet, schließen sie sich der Kundgebung an, von der sie nachher nicht einmal wissen, ob es ein politisches oder gesellschaftliches Ereignis war2. In ihren schicken Anzügen fallen sie unter den Demonstranten auf, werden von jenen jedoch als Kaderleute betrachtet und somit als Dazugehörende. Anschließend ins Hotelzimmer zurückgekehrt äußern sie sich sehr kritisch über das gerade Erlebte. Die Demonstration war für Benjamin von Stuckrad-Barre die „unmotivierteste, die [er] je schaute“ (TR, 94):
Es gab keine Sprechchöre, sondern nur einzelne Rufer. Die schrien auch nicht wirklich, sagten ihre Sätze nur vor sich hin. Es war ein vollkommen gemäßigter Spaziergang am Ende der neunziger Jahre, verbunden mit dem Hochhalten einiger Transparente. Keine Freude, keine Überzeugungskraft. Eine pessimistische Prozession. (TR, 94)
In dem nachträglich schon in Phnom Penh geschriebenen Kurztext mit demselben Titel Tristesse Royale zählt Kracht auf, wogegen sich die Demonstration richtete: „gegen den Krieg in Serbien und im Kosovo […] gegen die Nato-Intervention, für den Kommunismus, gegen den über Nacht zum Nazi gewordenen RAF-Menschen Horst Mahler, gegen den Zionismus und gegen die USA, für den Frieden und gegen die Diskriminierung von lesbischen Berlinerinnen.“3 Das Bild wird ironisch ergänzt: „Es war also eine diffuse Demonstration. Vorneweg stand ein Mann auf einem im Schritttempo fahrenden Lieferwagen und rasselte Parolen herunter. Hinter ihm liefen junge Menschen in schwarzen FC-St. Pauli-T-Shirts, Nato-raus-Plakate halbherzig in die Luft reckend. Danach marschierten einige Lesbierinnen, und hinter denen liefen wir.“ (GB, 130) Nach der Demonstration zerstoben die Teilnehmer, einige gingen nach Hause, einige setzten sich ins nächste Café und genossen den Rest des Tages. Die als subversive Tat (GB, 132) gedachte Teilnahme der Adlon-Gruppe an der Demonstration zeitigte keine Wirkung. Nichts änderte sich an der Demonstration selbst, nichts an dem Verlauf der Konferenz. So wie die Demonstration in der Wahrnehmung zu einer Scheindemonstration mutiert, in der jede Parole, jede Idee einer anderen in ihrer Wertlosigkeit gleicht, so konzentriert sich die weitere Diskussion im Hotel auf den Style der Kundgebung oder eher den fehlenden Style der Teilnehmer. Von Stuckrad-Barre klagt über den ausbleibenden Geschmacksinn der „Hausbesetzer, Friedensbewegten und so weiter“, sie verstünden nicht, „sich so herzurichten, dass es einem gefällt“. (TR, 95) Bessing bereut, dass die alte Ästhetik der Demonstrationen in Paris verlorenginge, die er jedoch nicht aus eigener Erfahrung kennt, sondern vermittelt durch die Fotos von William Klein, wie ihm von Schönburg supponiert. Der Leerlauf der Demonstration wird durch den Leerlauf der Konferenz fortgesetzt. Aus dem möglichen Protest wird eine leere Geste. Das Ästhetische der alten Demonstrationen wird noch einmal durch die Zusammenführung ihrer skandierten Parolen mit Chorälen hervorgehoben. Zugleich werden die Rollen der Zuschauer und Akteure zugeteilt. So beobachtete Eckhart Nickel im Café Kranzler sitzend eine Kundgebung, die in den 80er Jahren in Frankfurt stattfand. (TR, 95) Die Demonstration wird für ihn zu einem medialen Ereignis, das demzufolge ästhetisiert wahrgenommen wird. Es klingt also etwas gespielt, wenn Alexander von Schönburg sich in seiner Enttäuschung über die Demonstration in Berlin ereifert: „Darauf [die Ausschreitungen – D.K.) hatte ich eigentlich gehofft. Wenn ich schon diese Panzerfahrzeuge sehe, dann möchte ich doch auch die Steine fliegen sehen, die Knüppel oder Dachlatten, den Qualm.“ Die Begeisterung verschlägt ihm fast den Atem, wenn er – sich wohl an Apokalypse Now von Francis Ford Coppola erinnernd – hinzufügt: „Napalm vielleicht.“ (TR, 94)
Die groteske Dissoziation der Berliner Demonstration verbunden mit der Aufteilung der Gesellschaft in die Demo-Teilnehmer und die Zuschauer, wie bei einer Theateraufführung, führt das sozial-politische Ereignis in die rein ästhetischen Dimensionen über. So wird aber die Demonstration ihres eigentlichen Sinnes beraubt. Die Teilnahme an der Kundgebung wird lediglich zur Demonstration, dass man demonstriert. Anders als im Fall von Joachim Lottmanns Figur in Mai, Juni, Juli, die angesichts der Tatsache, dass zwei Polizisten sich aktiv an einem Sit-In beteiligten, aus Protest in die CDU eintritt.4 Eine Haltung des Dagegenseins-gegen-die-die-dagegen-sind, die von Dirk Frank als „Meta-Protest“ bezeichnet wurde. Während der Franksche Begriff „Meta-Protest“ sowohl eine „Steigerung als auch eine Überwindung der orthodoxen Protestkultur“5 intendiert, kann man im Fall vom popkulturellen Quintett, und besonders von Kracht, was noch gezeigt wird, von keiner tatkräftigen Überwindung sprechen. Der Style und der Schein stehen im Vordergrund.
Die Hingabe an die Staffage wird durch eine Szene von einem kurzen Prosastück Tristesse Royale6 aus Der gelbe Bleistift noch potenziert. Durch die Zusammenführung der Berliner Kundgebung mit einer anderen Demonstration, diesmal in Phnom Penh, wird ein Rahmen geschlossen. Bessing und Kracht sitzen auf einer Veranda des Foreign Correspondents Club of Cambodia und schauen auf eine sich unten versammelnde Menschenmenge. Der Strom ist ausgefallen, die Ventilatoren und die Straßenlaternen sind ausgegangen, es ist dunkel geworden. Den Himmel schneiden einige Blitze und die schwerbewaffnete Polizei geht an den Straßenkreuzungen in Stellung. Die Demonstranten tragen Lumpen, manche sind verkrüppelt. Sie fordern nur eines: „Die Erhöhung des kambodschanischen Mindestlohns von monatlich vierzig US-Dollar auf sechzig.“ (GB, 132) Der Ich-Erzähler stellt unverblümt fest:
Joachim Bessing und ich waren zu feige, mitzumarschieren. Was uns vor wenigen Stunden in Berlin noch als herrlich subversive Tat vorgekommen war, nämlich das wahllose Mitmarschieren bei unsinnigen Demonstrationen, hielt uns hier mit einem lastwagengroßen Spiegel unser wahres Gesicht vor: wir waren feige Popper. Und wir erkannten: Hier in Kambodscha hört die Popkultur auf. Es gab hier keinen ironischen Bruch zwischen dem, was ist und dem, was sein sollte. Hier ging es um zwanzig Dollar mehr im Monat.“ (GB, 132)
Eine in den Augen der Popper sinnlose Kundgebung der sich sicher fühlenden Demonstranten wird einer existenzwichtigen in Phnom Penh gegenübergestellt. Dort ein Spiel, an dem jeder zur Selbstbelustigung teilnehmen kann, hier ein Kampf ums Überleben. Unmissverständlich wird die Grenze des für die Camp-Ästheten7 Akzeptablen markiert. Ihre Welt ist die des Scheins, des Anführungsstriches. Das wahre Leben ereignet sich anderswo, sie erscheint ihnen aber als zu gefährlich. Es bleibt nichts Anderes übrig, als die Herausforderung der Scheinwirklichkeit hinzunehmen. Wie ihr zu begegnen ist, resultiert aus ihrer Beschaffenheit. Die Schlussszene von Tristesse Royale, die sich im Café Brûlé abspielt, führt in die Räume dieser ästhetischen Wirklichkeit über. Während Kracht und Bessing sich im Café über Ästhetizismus unterhalten, verändert sich grundsätzlich ihr Umfeld:
Eine Seitenstraße scheint sich indes aufzulösen; man glaubt einer optischen Täuschung zu erliegen, erkennt dann aber, daß lediglich eine eben noch stabil geglaubte Hauswand von Gehilfen in blauen Overalls weggetragen wird, und wie in Natalie Imbruglias Video zu „Torn“ löst sich der Hintergrund auf und gibt den Blick frei auf das wahre Phnom Penh. Merkwürdigerweise sieht es genauso aus wie die eben weggetragene Kulisse. (TR, 189)
Das Vermögen, zwischen der Wirklichkeit und der Fiktion zu unterscheiden, geht verloren. Mehr noch, es gibt keinen Garant, dass die jetzt gesehene Wirklichkeit nicht mehr eine theatralische Kulisse ist, hinter der eine weitere der Entdeckung harrt. Die Flucht vor der realen Welt, die nicht mehr die Welt der Protagonisten ist, in die Scheinwelt entlarvt sich als endlose Flucht über die Möbius Schleife. Oliver Jahraus legt dar, dass das Subjekt in diesem Fall dank dem angewandten ästhetischen Fundamentalismus
1 Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg, Benjamin von Stuckrad-Barre: Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg, Benjamin von Stuckrad-Barre. List Taschenbuch, München 2001, S. 10. Weiterhin mit dem Sigle „TR“ gekennzeichnet.
2 Ebenda, S. 93.
3 Christian Kracht: Der gelbe Bleistift. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2012, S. 129-130. Weiterhin mit dem Sigle „GB“ gekennzeichnet.
4 Joachim Lottmann: Mai, Juni, Juli. Köln 2003, S. 163. Vgl. auch: Nadja Geer: Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose. Göttingen 2012, S. 131-132.
5 Nadja Geer, wie Anm. 4, S. 132.
6 Vgl. Anm. 3.
7 Die Autoren von Tristesse Royale werden durch Nadja Geer im zitierten Werk der Camp-Kultur, wie sie Susan Sontag beschrieb, zugeordnet. Vgl.: N. Geer, wie Anm. 4 und Till Huber: Im Herzen der Uneigentlichkeit. Wie Anm. 3, S. 224, wo der Autor sich auf die Analyse der Camp-Kultur von Sontag beruft und den gesteigerten Ästhetizismus bei Kracht konstatiert.