Ökopoetischer Generationenwechsel anhand von kommunikativen und sprachästhetischen Paradigmen aus Panischer Frühling von Gertrud Leutenegger und Der letzte Schnee von Arno Camenisch

Margrit Zinggeler
Eastern Michigan University

Der Roman Panischer Frühling (2014) von Gertrud Leutenegger (*1948) und die Erzählung Der letzte Schnee (2018) von Arno Camenisch (*1978) werden hier in ökokritischem Hinblick bezüglich der Struktur der Kommunikation der Protagonisten und der ökopoetischen Sprachästhetik untersucht. Die klimabeeinflusste Natur ist der narrative Hintergrund in beiden Texten, in denen sich die Symbolik der Ökokritik in einer Poetik der Erinnerung äußert. Es sind mitgeteilte, gesprochene Erinnerungen im Dialog zweier Menschen, die die veränderte Naturbeziehung metaphorisch und real darstellen. Anhand vielfältiger, textbezogener Beispiele lässt sich der klimatische Alarmzustand durch die verschiedenen Generationenperspektiven darstellen.
Schlüsselwörter: Ökopoetik, Umwelt- und Naturschutzpolitik, Naturästhetik, Naturpoesie, Klimawandel, Dialekt, Anthropozentrismus

Generational changes in ecopoetics based on communicative and language-aesthetic paradigms from Panic Spring by Gertrud Leutenegger and The Last Snow by Arno Camenisch

The novel Panischer Frühling (2014) by Gertrud Leutenegger (*1948) and the story Der letzte Schnee (2018) by Arno Camenisch (*1978) are examined here from an ecocritical viewpoint with regard to the structure of the protagonists’ communication and the ecopoetic aesthetics of language. Climate-influenced nature is the narrative background in both texts, in which the symbolism of ecocriticism is expressed in a poetics of memory. They are communicated, spoken memories in the dialogue between two people, which represent the changed relationship to nature metaphorically and in reality. By means of diverse, text-related examples, the climatic state of alarm can be conveyed through different generational perspectives.
Keywords : ecopoetics, environmental and nature protection policies, nature esthetics, nature poetics, climate change, Helvetism, anthropocentrism

1. Geschichtliche Hintergründe der grünen Bewegung in der Schweiz und Beispiele von theoretischen Ansätzen der Ökokritik

Die literarische Ökokritik1 in der deutschen Schweizer Literatur kann als eine Reaktion auf die Ende der 1960er, und Anfang der 1970er eintretende Bewegung des protestierenden Umwelt- und Naturschutzes auf breiter Ebene in der schweizerischen Bevölkerung interpretiert werden. Die Geschichte der Grünen Partei2 in der Schweiz geht auf die Autobahngegner im Kanton Neuenburg und die Atomkraftwerkgegner sowie weitere kantonale, grün-alternative Gruppierungen zurück. Die Konsolidierung der Grünen Partei der Schweiz erfolgte zuerst 1986 und sie etablierte sich in den 1990er Jahren zu einer Partei mit langsam aber stetig steigenden Sitzen in den Kantons- und Landesregierungen. Maya Graf wurde 2013 zur ersten grünen Nationalratspräsidentin gewählt. In der Zwischenzeit setzen sich alle politischen Parteien und auch die öffentlichen, wirtschaftlichen und privaten Institutionen für eine, wenn auch verschieden ausgerichtete Umwelt- und Naturschutzpolitik in der Schweiz ein, die ebenfalls global verwurzelt und vernetzt ist.

Wie werden in der Deutschschweizer Literatur ökologische Probleme vermittelt, damit die Bevölkerung und die Institutionen handeln? Ist ein erfolgreicher, umweltpolitischer Diskurs in literarischen Texten überhaupt möglich? Wie lassen sich ökologische Probleme sprachlich-kommunikativ in literarischen Darstellungen ausdrücken? Theorieansätze und Paradigmen aus der europäischen und amerikanischen Komparatistik werden hinsichtlich der fiktionalen Literatur vielfältig diskutiert, u.a. im Sammelband Literatur und Ökologie: Neue literatur- und kulturpolitische Perspektiven (2007), herausgegeben von Claudia Schmitt und Christiane Sollte-Gresser, die das Konzept der Ökokritik auf dem ursprünglichen Wortsinn der Ökologie in der Wissenschaft und in der Gesellschaft basieren, nämlich auf oikos, was Hausgemeinschaft bedeutet.

Die Vorstellung einer Lebensgemeinschaft kann am besten von der Erkenntnis zeugen, dass wir, notwendigerweise vom Menschen ausgehend, im Rahmen der komparatistischen Ökokritik Wechselbeziehungen und konkrete Interaktionen der uns umgebenden belebten und unbelebten Erscheinungen im gemeinsamen Lebensraum betrachten und hier besonders die menschliche(n) Rolle(n) innerhalb dieses Beziehungsgeflechts fokussieren (16).

Der Lebensraum, also die Umwelt und die Natur, wird somit als ein sozial beeinflusstes Konstrukt angesehen, ähnlich wie dies auch Bruno Latour (2017) in seinen philosophischen, anthropozentrischen Anschauungen in Bezug auf die Wissenschaft und Technik vertritt, nämlich dass auch die wissenschaftliche Realität ein Konstrukt sei, obwohl er in jüngster Zeit wissenschaftliche Ergebnisse als reale Tatsachen verteidigt.3 Die Ökokrise, die zunehmende Erderwärmung und der Klimawandel, verursacht durch menschliche Aktivitäten, wie auch die gegenwärtige Ohnmacht gegenüber dem Corona-Virus, in der auch die Wissenschaft ihre eigene Grenzen und die Aporie der Natur erkennen muss, ergeben neue Herausforderungen innerhalb der ökologischen Problematik, die in der Schweiz vom Bundesamt für Umwelt (BAFU) dargestellt werden und im Hinblick auf die Zukunft konkrete Lösungen verlangen. Dargestellt werden die Umweltprobleme auch in der Literatur des Landes.

2. Naturästhetische Perspektiven in der Literatur

Das veränderte Naturverständnis und das historische Naturbild wurde nun vermehrt in der Literatur thematisiert und politisiert. Die sog. „grüne Lyrik“ protestierte parallel zu den Aufrufen der neuen grünen Parteien in Europa mit ästhetisch verfassten Wortspielen und Metaphern gegen die drohende Zerstörung der Umwelt und der Lebensräume. Das ästhetische und vollkommene Naturbild der Romantik, wie auch bei Autoren wie Jean-Jacques Rousseau und Johann Wolfgang Goethe, wurde schon in theoretischen und philosophischen Ansätzen von Intellektuellen wie beispielsweise Martin Heidegger,4 Walter Benjamin, Theodor W. Adorno,5 Jürgen Habermas und Alfred Schmidt, vielfältig dekonstruiert. Während es für Goethe keinen Unterschied zwischen dem Menschen und der Natur und keinen Unterschied zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit gab, vermochte für ihn nicht die Wissenschaft, sondern nur die Kunst die idealisierte Natur versinnbildlichen, obwohl er mit seinen naturwissenschaftlichen Studien mannigfaltige Naturphänomene empirisch zu erkennen und zu analysieren versuchte. Heute bestimmen empirisch-naturwissenschaftliche Erkenntnisse und die alles beeinflussenden, ökologischen Auswirkungen des Klimawandels infolge der globalen Erderwärmung und der Umweltverschmutzung, die reale und die ästhetische Naturbeziehung der Menschen zueinander und zu den Tieren und Pflanzen. Das Wahre (truth) und reale Tatsachen (facts) lassen sich nur im wissenschaftlichen Vergleich erkennen und stellen nicht mehr einfach ein Kunstgleichnis dar, das unabhängig von der Natur bestehen konnte. Die Symbolik der Ökokritik äußert sich in der Literatur oft in einer Poetik der Erinnerung, also wie es einmal war und wie das apokalyptische Ende auf unserem Planeten sein könnte. Heukenkamp (1982) meinte in der Zeit des ökokritischen Erwachens, dass die „Naturmetaphern zu Zeichen eines subjektiven Konfliktbewusstseins umgewandelt“6 werden müssten. Deshalb beeinflusst der globale, wissenschaftlich erwiesene Klimawandel die subjektiven Naturempfindungen und die Dichtung gleichermaßen. Viele der Naturmetaphern in der zeitgenössischen Dichtung widerspiegeln die Bedrohung des Einzelnen und der Gesellschaft und die menschlichen Beziehungen.

Der Begriff Ökopoetik ist von der Naturpoesie abzugrenzen. Die US-amerikanische Poetry Foundation definiert diesen Unterschied folgendermaßen: „…ecopoetics rose out of the late 20th century awareness of ecology and concerns over environmental disaster. A multidisciplinary approach that includes thinking and writing on poetics, science, and theory as well as emphasizing innovative approaches common to conceptual poetry, ecopoetics is not quite nature poetry.”7 Was bedeutet die Aussage, dass Ökopoetik „nicht ganz gleich“ wie die Naturpoesie sei? Können wir eine ökologische Ästhetik der Naturbeschreibungen in der Literatur herauskristallisieren, die die ökologischen Probleme sprach-ästhetisch „schön“ darstellen? Gibt es Konzepte einer naturpoetischen, im Gegensatz zu einer realpoetischen Sprache und wie äußern sich diese Unterschiede in literarischen Texten?

3. Beispiele von ökokritischer Kommunikation in divergierenden Sprachstrukturen

Die Deutschschweizer Schriftstellerin Gertrud Leutenegger, Jahrgang 1948, geboren in Schwyz, schreibt seit 1970 naturpoetische Texte mit subtiler, kaum spürbarer Kritik, aber auch mit warnenden, ökokritischen Natur-Metaphern und gewaltigen, positiven und negativen, anthropozentrischen und nicht-anthropozentrischen, Naturbildern. Die Ökologiekrise der 1970er sensibilisierte die junge Schriftstellerin sich nicht nur mit der schönen und lieblichen Natur ihrer Kindheit, sondern auch mit der gefährdeten Natur in ihren Texten gleichzeitig poetisch und kritisch auseinander zu setzen. Sie wurde zudem beeinflusst von Reaktionen gegen die atomare Aufrüstung und den Gefahren von Atomwerken zur Energiegewinnung, sowie bezüglich der allgemeinen Umweltverschmutzung, der Folgen der Konsumgesellschaft und dem Waldsterben infolge der Luftverschmutzung.

Nicht nur in ihren Gedichten im Band In Salomons Garten (1981) und dem dramatischen Poem Sphärenklang (1999), sondern auch in jedem einzelnen ihrer Romane8 und ganz besonders im Spannungsfeld einer magischen, zwischenmenschlicher Beziehung in Panischer Frühling (2014), wirkt die klimabeeinflusste Umgebung als narrativer Hintergrund. Die Autorin vereint eine überwältigende Naturpoesie gefüllt mit ökopoetischen Motiven und Symbolen, die die Zerstörung des Lebensraumes für Mensch, Tier und Pflanzen infolge der immer weiter ausdehnenden Umweltverschmutzung beinhalten, verursacht durch die ausbeutenden, kapitalistischen Wirtschaftssysteme und die Überbevölkerung.

Arno Camenisch, dreißig Jahre jünger als Gertrud Leutenegger, verfasst in Der letzte Schnee (2018) sprachlich einfache Erzählungen, verglichen mit dem naturpoetischen, überwältigenden Schreibstil von Gertrud Leutenegger. Der Hintergrund in den meisten seiner Texte ist seine Bündner Heimat, die vom Klimawandel und von der Abwanderung der jungen Generation bedrohlich betroffen ist. Die verbliebene und gealterte Bevölkerung erlebt die veränderte Natur tagtäglich und verharrt in Erinnerungen an die frühere Zeit, an die damalige Lebensweise und in ländlichen Traditionen. Es sind mitgeteilte, gesprochene Erinnerungen zweier Menschen, die in den hier zu besprechenden Texten beider Autoren einem ökokritischen Ansatz folgen, obwohl die direkte Rede in beiden Texten nicht mit Anführungszeichen abgegrenzt ist, sondern mit den Erinnerungsnarrativen nahtlos verschmilzt. Eine Stimme zu haben, nur wenn der/die Autor/in beiläufig hinzufügt, wer was sagt, oder dies auch unterlässt, ist Teil einer stilistischen Struktur, welche von den Lesenden vermehrte Aufmerksamkeit erfordert, besonders in Erzählungen, die als eine alles umfassende Beziehungskommunikation aufgebaut sind. In Der letzte Schnee (2018) von Arno Camenisch sind die Handlungen und Erinnerungen der beiden etwa gleichartigen, älteren Protagonisten Paul und Georg in jedem Kapitel in ihre täglichen Gespräche eingebaut, die sie im Umfeld des veränderten Klimas in den Schweizer Bergen bei ihrer Arbeit mit einem altmodischen Bügelskilift führen. Im gleichen Jahr 2018 wie Camenischs Roman veröffentlicht wurde, fand die UN-Klimakonferenz in Katowice in Polen statt, an der die damals 15-jährige Klimastreikaktivistin Greta Thunberg ihre fulminant anklagende Rede hielt und den Mächtigen zurief: „Ihr stehlt den Kindern ihre Zukunft, direkt vor ihren Augen.“9 Ein Generationenwechsel vollzog sich von diesem Zeitpunkt an auf der globalen Ebene des Umweltprotests: Schüler und Jugendliche auf der ganzen Welt setzen sich lautstark und fordernd für Klima- und Naturschutz ein und sie zeigen auf die Schuldigen, die nicht handelnden, machtsüchtigen Politiker und die nur an monetären Gewinn denkenden, kapitalistischen Industriellen. Die Zukunft der jungen Generation von Bündnern liegt nicht mehr in der schönen Natur der heimatlichen Täler.

Wie äußert sich der Generationenwechsel in der literarischen Ökokritik? Wie verarbeiten die jungen SchriftstellerInnen die Klimaveränderungen, mit der sie aufwachsen oder aufgewachsen sind, verglichen mit etablierten, älteren AutorenInnen, die den Anfang der ökologischen Wahrnehmung der sich ändernden Umwelt und die frühen Protestbewegungen subjektiv miterlebt haben? Hier werden nun zwei Texte vorgestellt und miteinander verglichen, die beide als Erinnerungs- und Kommunikationsdialoge und als kommunikative Beziehung aufgebaut sind. Kommunikativ vergleichbar strukturiert wie Der letzte Schnee (2018) von Arno Camenisch sind die Erinnerungsgeschichten zweier Figuren in Gertrud Leuteneggers Panischer Frühling (2014), ein Roman, der mit dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull im Jahr 2010 beginnt. Eine ältere Frau und ein mit einem Brandmahl gezeichneter junger Mann, der die Obdachlosen-Zeitung verkauft, begegnen sich auf einer Brücke im frühlingserwachenden, wetterveränderten und aschenverseuchten London und beginnen einander ihre tief persönlichen Geschichten zu erzählen. Die ökologischen Umweltveränderungen sind der real-existierende Hintergrund in den Narrativen der zwei hier ausgewählten Texte, in denen die zentrale Beziehungskommunikation eine ökokritische Bedeutung aufweisen.

4. Ökopoetische Erinnerungs- und Kommunikationsdialoge und ökonarrative Bilder in Panischer Frühling

In Leuteneggers Panischer Frühling ist es nicht nur das Erwachen der lieblich-schönen Natur in den Parkinseln inmitten des Londoner Smogs und den überbevölkerten, multikulturell und rassenpolitisch angespannten Stadtteilen, sondern die Dichotomie zwischen reizvoller und versehrter Natur wird auch in dem Narrativ der Beziehung zwischen einer älteren Ich-Erzählerin und einem jungen Mann dargestellt, dessen eine Wangenseite „geschwollen und wie von Fäule befallen“ war, „als würde sie von innen her von einem Tier zerfressen“ (21). Die andere Gesichtshälfte war schön „wie auf einem Renaissancebildnis“, mit feingeschwungener Nase, umrahmt von „dichtem dunkelblonden Haar, das im Sonnenlicht in einem unübersehbaren Rotton schimmerte“ (20). Zuerst war es für die Ich-Erzählerin das ausgesprochen schöne Profil des jungen Mannes und gleichzeitig seine versehrte Gesichtshälfte, die sie anzogen. „Ich registrierte kurz, dass die dunkelroten Flecken sich bis übers Ohr hinzogen, der Rand des Ohrläppchens knotig vergrößert war und der eine Mundwinkel nicht eine eigentliche Verzerrung, sondern eher eine schwammige Verdickung aufwies“ (70). Der große, schlanke Mann in schwarzer Lederjacke verkauft die Obdachlosenzeitung auf einer Brücke in London, und er wirkt mit seinen beiden verschiedenen Gesichtshälften wie ein Magnet auf die Ich-Erzählerin. Die Geschichte beginnt mit den Folgen des Ausbruchs des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull auf das Wetter und die Flugbeeinträchtigungen in Europa und besonders in London, wo die Ich-Erzählerin/Autorin während der Frühlingsmonate weilt. Dem geographischen Vulkanausbruch in Leuteneggers Panischer Frühling wird ein paralleler Beziehungsgefühlsvulkanausbruch gegenübergestellt. Es erscheint zuerst unglaublich, „wie eine Aschewolke dieses isländischen Vulkans den europäischen Luftverkehr lahmgelegt hatte.“ Es erscheint ebenso unglaublich, wie eine Flut von Emotionen und Erinnerungen in der älteren Ich-Erzählerin durch einen jungen, Obdachlosenzeitung-verkaufenden Mann auf der London Bridge eine leidenschaftliche Attraktion und gleichzeitige Panik auslösen kann. Panik sei oft ein Vorbote des Todes, beteuert die Erzählerin. Ein Vulkan bedeutete beispielsweise ein apokalyptisches Massensterben in Pompeji. Der Vulkanausbruch in Island ließ Gletscher schmelzen und auf dem Boden entstanden „zu Eisskeletten erstarrte Gräser“ (112). Die Ökokritik von Gertrud Leutenegger, in blumig-überwältigender Sprache verfasst, lässt sich im Roman Panischer Frühling oft nur im Gleichnis von Beziehungen aufzeigen, obwohl auch einige Beschreibungen deutlich die ökologischen Katastrophen darstellen und damit kritisieren. Die Ich-Erzählerin, fasziniert von der Themse mit ihren Gezeiten und der Geschichte der „gewaltigen Eichenwäldern“, die die Insel Britannien einmal bedeckt hatten, meint:

Nie hat ein Fluss mich mehr verwirrt als die Themse. Wenn die Gezeiten wechselten, entstand ein quirlender Stillstand. Drängten die Wassermassen ins Landesinnere oder meerwärts? Unverwandt schaute ich in die miteinander im Widerstreit liegen Strömungen. Vor meinen Augen begann alles zu kreisen und sich zu drehen. Da schwammen wieder, wie vor Jahrtausenden, Eichen aufrecht im Fluss! Unterspült von den Fluten, hatten sie sich vom Ufer losgerissen, umklammerten jedoch fest mit den Wurzeln ihr Erdreich und trugen es mit sich fort. Preisgegeben den Winden, ragten die Kronen der Eichen empor, mitten auf dem Strom reibend erschreckten sie in der Nacht die römischen Legionen, die das riesige Takelwerk der Äste für feindliche Schiffe hielten und, benommen oder betrunken, eine Schlacht gegen die Bäume anfingen. Dabei waren die Eichen doch wohl eher auf der Flucht, dem offenen Meer zu, als ahnten sie das kommende Zerstörungswerk, ihr Niederbrennen und Niederschlagen, für Siedlungen und Schiffbau, und das Einzäunen ganzer Hügel und Ebenen für die Jagd, Überwachung und Exekutionen, während der Wald doch den Verrückten gehört und der Kindheit (10‒11).

Immer wieder ist es das Motiv des Waldes, das in Gertrud Leuteneggers Texten mehr als nur eine menschlich-moralische, aber ebenfalls eine nicht-anthropozentrische Bedeutung hat. Das Wesen Mensch ist nicht nur von der Natur – vom Wald – abhängig, sondern durchdrungen von ihm. Es gibt kaum eine Grenze zwischen dem Menschen und dem Wald. Bäume sind Menschen und der Mensch ist ein Baum. Im „Waldzimmer“ ihres Vaters, erinnert sich die Ich-Erzählerin: „Ich tastete mit meinen Händen über die gemalten Lindenblätter und Buchenstämme. Wo war nur mein Vater? Schweigend wuchs der gemalte Wald um mich, tief und undurchdringlich, keine der helleren Lindenblüten bewegte sich. War denn mein Vater auch ein Wilder geworden, verschwunden unter grünen Flechten und Tannensprösslingen, unendlich geliebt und kaum gekannt?“ (172). Ihr Vater ist konkret „ein wilder Wald“ (58) für die Ich-Erzählerin geblieben, so wie im Grunde genommen auch der junge Mann auf der London Bridge. Die später beschriebene, umweltzerstörende Rodung des Urwalds im Amazonas Gebiet wird in Zusammenhang mit der Angst um das Kind der Erzählerin/Autorin explizit erwähnt. Nicht nur der Wald, auch das Wasser ist bedrohter Lebensraum. Eine direkte Mahnung der Wasserverschmutzung mit Plastik ist beispielsweise die Beschreibung von einer im Sand der Themse liegenden Flipflopsandale (10), die wie ein Mahnmal die Wasserverschmutzung verkörpert. Die Gezeiten messbar in der Themse in London geben dem Roman die Struktureinteilung. Die einzelnen 41 Kapiteln werden mit Ebbe und Flut als „LOW WATER“ und „HIGH WATER“ sowie mit dem jeweiligen Pegelstand überschrieben, wobei das erste und das letzte Kapitel den gleichen Titel tragen, „LOW WATER o,68 m“. Die Kapitelbezeichnungen von „HIGH WATER“ und „LOW WATER“ in Panischer Frühling können als Metaphern für Überschwemmungen und Dürre in Folge des Klimawandels interpretiert werden, wie auch für die Emotionen der Ich-Erzählerin, die der junge, wohl obdachlose Mann in ihr hervorruft: höchste Faszination und tiefste Besorgnis für seinen Zustand, so wie der isländische Vulkan Feuer und Eis vereint.

Durch den Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull wurden Teile des Gletschers durch den Lavafluss geschmolzen und stürzten zu Tal und verwüsteten die Landschaft. Es gibt Naturereignisse und -katastrophen, die nicht direkt durch menschliche Aktivitäten hervorgerufen werden. Sie können als Aufschrei der eigentlichen Naturkräfte angesehen werden. Die Natur hat eine Eigendynamik. Im ersten Kapitel wird beschrieben, wie die Ich-Erzählerin in London über Trafalgar Square zur Themse ging, über ihr der blaue Himmel, so „…dass es unglaublich erschien, wie eine Aschewolke dieses isländischen Vulkans den europäischen Luftverkehr lahmgelegt hatte“ (7). Das unsichtbare Naturphänomen behindert den Flugverkehr, obwohl die Sonne scheint und der Himmel blau strahlt, weit entfernt vom explosionsartig ausgebrochenen Vulkan mit den Aschewolken. Ist der Vulkanausbruch eine Rache der „Schwester Erde“, wie der Heilige Franziskus unseren Planeten nannte? Wie eine unbekannte Schwester stieß die Ich-Erzählerin auf der Themsebrücke auf einen jungen Mann, der die Obdachlosenzeitung verkaufte. Ist unser Planet obdachlos, weil das Ozonloch so groß geworden ist? Nicht die Zeitung der Obdachlosen wollte die Ich-Erzählerin kaufen, sondern wegen dem klassisch schönen Profil des Verkäufers ging sie wie von einem Magneten angezogen direkt auf ihn zu. Beide bückten und erhoben sich gleichzeitig, und sie sah jetzt seine andere Gesichtshälfte.

Mein Entsetzen war umso größer, als das Profil des jungen Mannes, aus einer fernen Epoche herkommend, mich unwillkürlich angezogen hatte. Die eine Wangenseite, die anfänglich durch das volle Haar versteckt gewesen war, bot sich geschwollen und wie von Fäule befallen dar, als würde sie von innen her von einem Tier zerfressen. […] Zwei Augen von einem hellen Taubengrau musterten mich. Ich erinnere mich an Sie, sagte der junge Mann. Und jetzt ging ein Lächeln über sein Gesicht, zumindest über die unversehrte Hälfte, über die andere, wo der Mundwinkel verzerrt war und nur kurz zuckte, hatte er offenbar keine Kontrolle (21).

So wenig wie der/die Einzelne eine wirksame Kontrolle über die Kräfte und Veränderungen der Umwelt hat, hat die Ich-Erzählerin keine oder wenig Kontrolle über die unerklärliche, vulkanartige Anziehungskraft des jungen Mannes auf sie. Immer wieder sucht sie ihn auf der London Bridge auf und die beiden beginnen einander Geschichten aus ihrer Kindheit zu erzählen; sie von den Kindheitserinnerungen in der Schweiz, und er von den seinigen aus Cornwall, wo er bei seiner Großmutter aufwuchs. Auch Erinnerungen der Großmutter mit Kindern aus London während des Krieges sind in seine Geschichten eingewoben. Ihr gegenseitiges, intimes Geschichtenerzählen ist ein „uns selbst nicht ganz fassbarer Ausnahmezustand“ (86), beide sind „erschrocken“ (87) über ihre Vertrautheit, ihre Freude, wenn sie sich so zufällig wie möglich wiedersehen und „am Doppelhaus unserer Erinnerungen bauend“ (143) „neue Verbindungswege“ (144) zueinander finden. Die Tiere sind es für die Ich-Erzählerin, „die Frösche, der Aal, die Schleiereule, sie waren meine Vermittler auf den Irrgängen zwischen mir “ (144) und dem jungen Mann. Dabei wirkt die eine verstellte Gesichtshälfte wie ein Mahnmal oder ein Symbol von Verwüstung – der verwüsteten Erde – während die schöne und edle Gesichtshälfte die Schönheiten einer überwältigenden Natur wiederspiegelt, die die Ich-Erzählerin immer wieder, neben der rasenden Stadt und der verschmutzten Themse in den Londoner Pärken und in den erwachenden Bäumen, Sträuchern und Blumen so nahe beisammen findet, wie auch in der Erinnerung ihrer Schwyzer Kindheit, im Haus mit dem üppigen Garten ihres Onkels – ein Geistlicher – den sie mit wortgewaltigen Bildern beschreibt und dem jungen Mann anvertraut. Schließlich erzählt sie ihm auch von ihren stundenlangen Streifzügen durch die Londoner Parks und den „verschwenderisch blau blühenden Bäumen“ (110), obwohl sie merkt, dass die blühende, schöne Natur ihn wenig interessiert. Er erzählt ihr vom gewaltigen Meer und dem rauen Wetter, denen die nahrungsbringenden Fischer in Cornwall ausgesetzt sind. Zwischen den gegensätzlichen Naturbildern der erinnerungserzählenden beiden ungleichen Menschen füllen unzusammenhängende Paragraphen mit schattenhaften Hinweisen auf Träume der Ich-Erzählerin, über ihre verstorbenen Eltern und ein Kind – das nun erwachsene Kind der Autorenerzählerin – das Narrativ, das auf den rein erzählerischen Ebenen kaum eine ökokritische Eigenschaft birgt. Doch gibt es Verbindungsstränge, wie beispielsweise in der sich wiederholenden kurzen Referenz zum Kind, das „sich in die Gefahren des Erwachsenwerdens gestürzt“ hat, in die Regenwälder des Amazonas, von wo es „nur manchmal ein Signal sendet“ (25). Nicht nur das Kind ist in Gefahr, sondern auch der Regenwald des Amazonas. Das Kind berichtet von den Platzregen. „Dann verschwimme die ungeheure Tiefe des Waldes in Dunst und Nebel, aber immer die Bäume so hoch und dicht nebeneinander, dass man den Himmel nicht mehr sehe. Und dieses alle bisherigen Vorstellungen von Natur umwerfende Grün! Diesen Respekt und diese Ohnmacht gegenüber dem grünen Riesen, wie es überhaupt Menschen wagten ihn zerstören zu wollen“ (58). In diesem Moment, als die Ich-Erzählerin diese Worte im Brief liest, erinnert sie sich, dass ihr der Vater „ein wilder Wald geblieben“ (58) sei. Zu früh war er gestorben, bevor sie den Wald von innen entdecken konnte. Die Verbindung vom Tod des Vaters mit seinem Wesen als Wald, mag ökokritisch auch auf den Begriff „Waldsterben“ hindeuten. Den äußeren Vater beschreibt sie eingehend beim Aufenthalt im Sommerhaus, wo die Familie beim Onkel und seinen ihm dienenden Schwestern in den Ferien weilte, und sie selbst stets den weitschweifenden Garten erforscht und kindlich staunend erlebt.

Ebenfalls jeden Sommer holte die Großmutter den Jungen mit einem Feuermal im Gesicht von Newlyn nach Penzance, und nach dem Tod seines Vaters lebte er ganz bei ihr. „Und ich hatte von Geburt an dieses Feuermal. Vielleicht war ich für die andern verflucht, verdammt, verteufelt? Wieso sollte man nicht auch mich, wie die missgebildeten Tiere, in einer finsteren Nacht von den Klippen stoßen“ (45). Die Ich-Erzählerin war bei dieser Äußerung des jungen Mannes erleichtert. „Es handelte sich also nicht um eine ansteckende Krankheit, auch nicht die Folgen eines grauenhaften Unfalls. Unwillkürlich war ich wie erlöst aufgestanden“ (46). „Verschwenderisch“ erzähle er ihr; sie fühle sein Vertrauen und „aufgenommen“ (46) von diesem unbekannten, jungen Mann. „Dass uns ein Fremder in sein Inneres einlässt, ist erregend, von solcher Wärme und ebenso unbegreiflich, wie von ihm umgebracht zu werden“ (63). Es sind vulkanische Eigenschaften. Die anziehende Wärme löst aber nicht nur Wohlbehagen in ihr aus, sondern auch Panik, ja Todespanik. Trotzdem tröstet das versehrte Angesicht des jungen Mannes die Erzählerin „eigenartigerweise“. „Die bräunlichen Knoten hatten die Farbe verfaulter Magnolienblüten, die in diesen Tagen in den Parks unter den Bäumen lagen“ (46). In Parks geht der die Obdachlosenzeitung verkaufende junge Mann nie, rast jedoch gerne mit seinem Fahrrad über vierundzwanzig Themse-Brücken nach Kew, „Bei Rot flitze ich einfach durch […] mit höchster Geschwindigkeit, es ist eine rasante Fahrt in die Zukunft!“ (88). Er ist wie ein Vulkan. Das Fahrradfahren war auch die Leidenschaft seiner Großmutter gewesen, erzählt er. Die Fahrten endeten immer in einem Friedhof, wo sie die Gräber von ertrunkenen Fischern aufsuchte. Eines Tages, in einer Kirche sitzend, hätte die Großmutter schwer geatmet. Als er dies erzählt, wird seine Stimme plötzlich aggressiv und drohend. „Warum erinnern Sie mich überhaupt daran?! […]“ Die Ich-Erzählerin bemerkt, dass die scharf begrenzte Linie seines Feuermals ganz rot und geschwollen wirkt, „[…] als könnte die Entstellung jeden Augenblick wie bei einem Dammbruch, überschwappen auf die unversehrte Gesichtshälfte“ (148).

Ein Dammbruch ist eine potenzielle Gefahr bei jedem Stausee. Eine ansehnliche Zahl von Stauseen wurden in der Schweiz im 20. Jahrhunderts gebaut um Hydroelektrizität zu gewinnen. Es geschah teils auf Kosten der Veränderung der Natur und auch ganze Dörfer wurden zerstört, damit ein Flusstal mit einem Stausee aufgefüllt werden konnte. Einer der bedeutendsten Deutschschweizer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Meinrad Inglin (1893-1971), hatte mit Urwang schon 1954 einen ökokritischen Roman geschaffen, in dem ein Dorf in einem Stausee ertrinkt und die Natur durch die Technik im Namen des Fortschritts und der Energiegewinnung geändert, bzw. geschändet wird.10 Mit dem Klimawandel der letzten Jahrzehnte birgt der Schwund der Gletscher neue Gefahren, da mit dem Schmelzwasser neue Seen gebildet werden. Die Wahrscheinlichkeit „von grosskalibrigen Sturzereignissen in Seen unmittelbar unterhalb von zunehmend eisfrei werdenden Steilflanken mit tendenziell abnehmender Stabilität“11, wurde von Wissenschaftlern der Universität Zürich berechnet. Es herrscht eine neue Gefahr in den Schweizer Alpen infolge der Erderwärmung. Auch durch den Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull wurden Teile des Gletschers durch den Lavafluss geschmolzen und stürzten zu Tal und verwüsteten die Landschaft. Es gibt Naturereignisse und -katastrophen, die wahrscheinlich nicht direkt durch menschliche Aktivitäten hervorgerufen werden. Aber sie können als Ermahnung der Naturkräfte angesehen werden, wie bereits oben erwähnt.

Vögel beflügeln die Narrativen in allen Texten von Gertrud Leutenegger, und das Vogelsterben hat auch symbolische Bedeutung in Panischer Frühling. Der Onkel der Ich-Erzählerin berichtete ihr von den Schleiereulen auf dem Dachboden (S. 146) und von dem von ihnen angelegtem Vorrat von Mäusen. Das alles wollte sie dem jungen Mann erzählen, „…und wie mein Onkel betonte, dass die Schleiereulen kleine Weltbürger seien, überall beheimatet, doch sehr gefährdet“ (150). Die Ich-Erzählerin träumt, sie sei eine Schleiereule mit langen gekrümmten Krallen geworden, und dass sie einen Klumpen von Haaren ausstieße (S. 132), weil ihr der junge Mann von den bestickten Eulen auf Kissen erzählt hatte, an die er sich in der Kirche lehnte, wohin die Großmutter ihn immer mitnahm. Die Ich-Erzählerin sah auch „eine kleine Ente in dem grünen Brei fast ersticken. Sie versuchte senkrecht unterzutauchen, aber dabei blieb sie vollends in dem schleimigen Gewächs hängen, sie schnappte verzweifelt nach Luft und schlug mit den von Algen verschmierten Flügeln“ (155). „Die Algenteppiche auf dem See schienen stündlich zu wachsen“ (175). Warum gibt es immer mehr Algen in Gewässern? Auch im Atlantik gibt es einen Algenteppich, der die Ökosysteme bedroht. Durch Dünger und Abholzung können sich Algen explosionsartig vermehren, stellten Wissenschaftler fest.12 Umweltingenieure werteten Satellitenbilder von Seen auf allen Kontinenten aus. Sie fanden, dass in zwei von drei Binnengewässern die Algenblüten in den letzten 30 Jahren zugenommen haben und dass giftige Cyanobakterien in mehr als der Hälfte der untersuchten Seen vorkommen.13 Der globale Temperaturanstieg behindere auch die Erholung der Seen.

Nicht von Seen, aber vom Meer erzählt der junge Mann, während die beiden Protagonisten “am Doppelfenster unserer Erinnerung bauend“ (143) sich immer näherkommen. Nach dem Verschwinden seines Vaters auf dem stürmischen Meer richtete ihr Gesprächspartner als Junge die Flutzeiger im Hafen, so wie er es nun immer getan hatte, bis seine Großmutter ihm zurief, „Jonathan! Jemand anders richtet sie sehr genau“ (73). Zu ersten Mal erfährt die Ich-Erzählerin seinen Namen. Fast achtlos hatte er ihr „…seinen Namen zugeworfen, aber ich hielt ihn fest wie eine jener vom Meer auf die Promenade von Penzance geschleuderten Meeralgen, samt dem bizarr geschwollenen Wurzelstock, und die Algenblätter klebten nun an mir wie eine zerfledderte schwarze Fahne“ (73). „Ich trug seinen Namen mit mir fort! Jonathan. Königliche Beute“ (80). Nomen est omen! Sein Name ist für die Ich-Erzählerin – wir erfahren nie, wie sie heißt, noch je etwas von der Mutter von Jonathan – mehr als eine königliche Beute und freudige Trophäe. Sein Name bedeutet ihr Zugang zu seiner Seele jenseits seines Feuermals. „Die prall aufsitzenden Knoten seiner Verunstaltung verschwammen zu einer einzigen, in der Gesichtsmitte scharf begrenzten Fläche. Wie eine Halbmaske, dachte ich, wenn es Nacht wird, kann man sie abnehmen und die heile Haut darunter berühren“ (78). Die Berührungspunkte bleiben die Geschichten, die sie sich erzählen.

Im Text vermischen sich ein „stream of consciousness“ von Kindheitserinnerungen der Ich-Erzählerin an das Waldzimmer im Hause ihres Onkels bis hin zu intermittierenden Beschreibungen ihrer Streifzüge durch London und ihrer multikulturellen Nachbarschaft in London mit verschwenderisch üppigen Pflanzen- und Blumenbeschreibungen, die sich in jedem Text von Gertrud Leutenegger nicht nur wie ein roter Faden, sondern wie eine rote Fahne durch die Narrative ergießen. Auf eine Beschreibung von überwältigenden Naturbildern (134) erkennt die Ich-Erzählerin, dass die gleiche verschwenderische Pracht und Freude ihr Jonathan bedeute. „Ob das Geständnis der Freude genügt? […] Jede Fülle des Lebens fordert uns heraus und will unsere Antwort“ (135). Jede Umweltveränderung fordert uns heraus und will unsere Antwort. In der Fülle der Frühlingsnatur vergessen wir sie immer wieder. „Inzwischen ist es Mai geworden“ (81), verflogen die Asche des Vulkans Eyafjallajökull und der Flugverkehr normalisiert, und „in den Parks explodierten die letzten Knospen“ (82).

Wie oft hatte ich mir zugesprochen, Baum der Hoffnung, bleibe stark. Und da waren sie, die trostspendenden Bäume, Riesen aus zwei Jahrhunderten, eine Kastanieneiche mit einem rissigen Rindenpanzer wie eine Meerechse und ein ausladender Ahorn, seine wulstigen Astleiber verzweigten sich zu einer majestätischen Krone. Ich betastete die ungeheuren Stämme, lehnte mich still an sie, kein Land hat so herrliche Bäume wie England. Nirgends sonst waren die Wiesen noch von so vielen wilden Hecken durchzogen, und nie war mir ein Frühling strahlender und üppiger erschienen als hier (84).

Naturbeschreibungen wie diese so typischen, überwältigenden Naturbilder in Gertrud Leuteneggers Texten, lassen die Naturpoesie über die Ökokritik hinauswachsen und geben uns Hoffnung, dass noch nicht alles auf dieser Welt verloren ist. Jede Geschichte, jedes Gespräch stellt inhärent eine Hoffnung dar. „Was wogen schon unsere so eigensinnig dem pausenlosen Verkehr abgetrotzten Gespräche, die nie ohne Scheu gewechselten Blicke? Nur unbedingte Offenheit konnte das dargebrachte Vertrauen erwidern. Es war wie ein Gehen über Wasser. Solange wir redeten, ertranken wir nicht. Je mehr ich dennoch, mit der ganzen Furcht der Zuneigung, einen brennenden Abstand wahrte, desto häufiger schien Jonathan meine Gedanken zu erraten“ (93). Verwirrt stellt die Ich-Erzählerin fest, dass sie die Gespräche mit Jonathan als „ein Glück“ empfindet,

[…] auf das ich völlig unvorbereitet gewesen war, das mich aber bald sicher über den Abgrund jeden Augenblicks gehen ließ. Redete ich mit Jonathan, waren auch die in der Ferne mir lieben Menschen nahe. Tat ich es längere Zeit nicht, rückten sie weiter weg. Das Getrenntsein von ihnen überkam mich dann wie eine körperliche Traurigkeit. Ungeahnte Ängste brachen auf. Aus welcher Tiefe? Das Vertrauen lebendig zu erhalten, bis zu dem Kind von einst, der jungen Frau in den Amazonaswäldern, wurde zu einer ungeheuren Anstrengung. Es ist nicht wahr, dass die Sorge immer dieselbe ist. Die wachsenden Grade der Entfernung sind real (109).

Dieses Glücksempfinden hält die Ich-Erzählerin fest, weil der Frühling immer Hoffnung bedeutet. „Es war Frühling und würde immer so bleiben. Nur selten, kurz wie ein Wetterleuchten, durchzuckte mich die Möglichkeit eines furchterregenden Wagnisses. Es erlosch sofort, nur das Glück des Daseins, fraglos und ohne Forderung, erfüllte mich wieder“ (167). Dann ist es immer wieder die Themse – High Tide und Low Tide – die wie eine Uhr die Gezeiten und die reale Wasserverschmutzung anzeigt, obwohl Kanalisationen und Müllentsorgung für Besserung in Europas Flüssen sorgten. „Stieg der über Jahrhunderte hineingeworfene Unrat an die Oberfläche? Aber davon war sie längst gesäubert. Dennoch sah ich diesen von Müll starrenden Fluss vor mir, abgebildet in der letzten Obdachlosenzeitung, die ich bei Jonathan gekauft hatte, einen von Abfall förmlich zum Stehen gebrachten Fluss in einem Elendsviertel Asiens. Wie ein riesiger Strom von Erbrochenem zwängte er sich zwischen den Slumhütten durch“ (165). Nicht nur die Wasserverschmutzung, auch die Lärmverschmutzung wird explizit angesprochen. Ein „höllischer Lärm“ von Polizeihelikoptern (189) sowie „[…] das Scheppern des herumfliegenden Abfalls“ und „noch lautere Musik und aufheulende Motoren“ (177), holen die Ich-Erzählerin aus ihren Träumen, in denen „eine Schlange von unvorstellbarem Ausmaß“ sie bedrohte. Ist es die Schlange der Versuchung? Am Tag mied sie die London Bridge, während ein längst vergessener Vers sie nicht losließ, „also sei gelobt für alle Zeiten, dass du blühen und sterben wolltest“ (178). Wird auch die Erde sterben?

Noch erzählt Jonathan von den Schwärmen von Sardinen in Newlyn, die die Jungs mitten in der Nacht in den Kliffen bestaunten. Nachts gehörte Jonathan zur Schar der Jungen. „Niemand konnte in der Dunkelheit mein entstelltes Gesicht genauer sehen. Auf einmal war ich wie die andern!“ (194). Als er heimkam, war seine Großmutter gestorben. Sie saß tot in ihrem Lehnstuhl. Er rannte mitten in der Nacht bis zur London Bridge. Als ihr Jonathan davon erzählte, plante die Ich-Erzählerin eine „Gegengabe“ (200) mit der Erzählung vom Tod ihres Vaters. Sie war „überschwemmt von neuen Erinnerungen“ (204), die sie Jonathan an ihrem Erzählort auf der London Bridge mitteilen wollte. Doch am Platz, wo Jonathan sonst mit seinen Zeitungspaketen stand, „…lehnte an der Brüstung ein vollkommen weißgestrichenes Fahrrad“ (205), sein Fahrrad, mit dem er wahrscheinlich in den Tod gefahren war. Noch Tage davor erzählte er ihr von der baldigen „Schwüle in den Tunneln, das verschwitzte Gedränge, die pure Atemnot“ (193) und dem Hitzeplan der Underground und wie „die Leute reihenweise umfielen. Wenn ich mein Fahrrad nicht hätte, rief Jonathan aus, ich wäre verloren!“ (194) Hatte ihn die übermäßige Hitze in London – die Erderwärmung – in die unbesonnene Raserei im Londoner Verkehr getrieben?

5. Komparatistische und sprach-strukturelle Überlegungen

Auch in der Schweiz verändert die globale Erderwärmung das Klima. Der Schnee ist nicht mehr die schützende Decke der ruhenden Natur und Möglichkeit für Wintersportvergnügen und lebenswichtigen Tourismus, sondern sein Fehlen ein ohnmächtiger Aufruf, wie der Text Der letzte Schnee von Arno Camenisch es zeigt. Camenisch wurde 1978 in Tavanasa, Kt. Graubünden, geboren. Ihm gelang es mit seinen real-poetischen auf Deutsch und Romanisch geschriebenen Geschichten, Romanen, Gedichten und Theaterstücken in die prominente Vertretung einer jungen, erfolgreichen Generation in der Schweizer Literaturszene zu treten. Gleich sein erster Roman von 2009, Sez Ner, war ein Erfolg. Es folgten Hinter dem Bahnhof (2010), Ustrinkata (2012), Fred und Franz (2013), Las Flurs dil di (2013), Nächster Halt Verlangen (2015), Die Kur (2016), Die Launen des Tages (2018), Der letzte Schnee (2019), Herrn Anselm (2019, war 22 Monate auf Schweizer Bestsellerliste), und Goldene Jahre (2020), ein Text über den umweltbedingten Wandel im schweizerischen Tourismus.

In den beiden hier besprochenen Werken – Panischer Frühling von Gertrud Leutenegger und Der letzte Schnee von Arno Camenisch – geraten, parallel zu den Klimaveränderungen, die Protagonisten in ihnen unverständliche Lebenssituationen, in denen sie immer tiefer in nostalgischen Erinnerungsnetzen schwelgen. Sie nehmen die ad-hoc persönlichen Lebensbedingungen hin und handeln kaum selbstbestimmend und zukunftsorientiert. Das ökokritische Handeln überlassen die beiden Autoren, die Vertreterin der 68-Jugend und der junge, erfolgreiche Erzähler von Lokalgeschichten den Leserinnen und Lesern. Die ausschweifende, Naturmetaphorik-beladene Sprache von Gertrud Leutenegger und die mit Bündner Helvetismen geschmückte, einfache Bildsprache von Arno Camenisch lenken immer wieder im Erzählungsstrang vom intertextuellen, angesprochenen Klimawandel ab. Natürlich können die beiden Texte verschieden gelesen und interpretiert werden, aber beide beinhalten den klimatischen Alarmzustand. Bevor die spezifischen ökopoetischen und ökokritischen Thesen in Panischer Frühling und Der letzte Schnee herauskristallisiert werden, sind hier einige komparatistisch-assoziierende Verbindungen einzufügen. Der Titel Panischer Frühling erinnert an das erste Pestizid-kritisierende Buch, Silent Spring (1962) von Rachel Carson, das internationaler Bestseller wurde und heute als ein Auslöser oder eine Katalyse in der weltweiten Umweltbewegung angesehen wird. Das Buch erschien 1963 auf Deutsch unter dem Titel Der stumme Frühling. Carson konnte nachweisen, dass das Vogelsterben auf die Verwendung des Insektengifts DDT zurückzuführen war und dass alle Lebewesen dadurch bedroht sind. Leutenegger wiederholt das Motiv der bedrohten und vernichteten Vogelarten in mehreren ihrer Romane.14 In Panischer Frühling berichtet sie explizit, “der letzte Vogel war verstummt“ (34). Der Satz weist auf das Vogelsterben infolge Umweltverschmutzung hin, sowie auf Rachel Carsons bahnbrechendes, ökokritisches Buch Silent Spring (1962). Heutzutage sterben jeden Tag weit über hundert verschiedene Tier- und Pflanzenarten aus. Der Living Planet Report berichtet, dass ungefähr 70% der Wirbeltierarten in den letzten 50 Jahren seit 1970 ausgestorben sind, bzw. 60% aller Tierarten, sowie dass ein Fünftel des Amazonas in den letzten 50 Jahren gerodet worden war.15 Die kombinierten Wörter „Der letzte …“ weisen ebenfalls auf eine Liste von unzähligen Buch- und Filmtiteln hin. Der Begriff „Der Letzte“ beinhaltet eine apokalyptische Konnotation.

6. Real-poetische Erinnerungs- und Kommunikationsdialoge und ökonarrative Bilder in Der letzte Schnee

Die Charaktereigenschaften der beiden Protagonisten Georg und Paul in Arno Camenischs Text Der letzte Schnee, die beiden älteren Männer, die einen traditionellen „Schlepplift“ in den Graubündner Bergen bedienen, erinnern an die Beschreibung des letzten Menschen von Friedrich Nietzsche in Also sprach Zarathustra (1883‒85). Nietzsches „letzter Mensch“ hat ein genügsames, behagliches, sehnsuchtsloses Wesen genau wie Georg und Paul, die zufrieden den Tag trotz Schneemangel, Folgen der katastrophaler Klimaveränderungen, mit gewohnten Verrichtungen verbringen und sich glücklich in ihrem kleinen Reich, dem „Skilifthüttli“, einrichten und Scheinarbeit verrichten. Seit Jahrzehnten bedienen sie einen altmodischen Schlepp-Bügel-Skilift, Baujahr 1971, während der Wintersaison, die in der Regel von November bis April dauert. Der Schlepplift symbolisiert die alte Zeit, als es noch viel Schnee gab. Jetzt liegt nur noch „ein Film…, ein bisschen Zucker auf den Bergen“ (5). Der Schnee sei seltener geworden als Kokain, meint Paul. Die Gemeinde hatte auch schon gedroht, den Skilift stillzulegen, so wie Jahr für Jahr mehr Einrichtungen, wie die Post, der Kiosk, das Lebensmittelgeschäft, die Tankstelle, der Coiffeurladen, die Bäckerei und die Schule, die alle wegen der immer ausgedehnteren Abwanderung geschlossen wurden. Nicht nur ist der Bügelskilift wenig attraktiv für die heutigen SkifahrerInnen, es fehlt vor allem an Schnee. „Dem Allmächtigen ist die Courage abhandengekommen, sagt der Paul16, oder müssen wir auf die Knie für den Schnee…“ (5). Immer wieder machen die beiden Männer, die den Skilift bedienen, Petrus und den Herrgott verantwortlich für den Schneemangel. Die tatsächlichen Ursachen der Klimaveränderungen werden kaum explizit angesprochen. Weil keine skifahrenden Gäste kommen, vertreiben Paul und Georg die Zeit mit zusätzlichen Wartungsarbeiten, dem immer fast zwanghaft wiederholten Zählen der Billette und der Skilift-Bügel, sowie einander Erinnerungsgeschichten erzählend. „Sie sitzen auf dem Bänkli vor dem Hüttli. Im Hintergrund surrt der Skilift gleichmässig“ (13). Es sei ein bisschen warm für den Winter und das alte Thermometer sei eine alte Schildkröte. „…der Teufel hat mehr Kohle eingeworfen. …man müsste fast meinen, es werde immer wärmer, so wie die Wetterfrösche im Fernsehen sagen, aber der andere da aus La Merica, der Strohkopf mit den gelben Haaren, behauptet immer noch felsenfest, das sei alles nur gelogen“ (19). Sie meinen natürlich Donald Trump aus Amerika. Wenn das so weiter gehe, sähe es in der Schweiz bald so aus wie in Marokko.

Dann schneit es doch noch ein wenig, aber die Gäste kommen nicht, gerade weil es schneit und die Sicht schlecht ist. Paul und Georg sitzen im Hüttli, essen, rauchen, spielen Karten und erzählen von ihren Schulerlebnissen, vom Fußball, von Skirennen, vom Militär, von Familien und Affären, von Verwirrungen und Verbrechen im Tal. Wenn es am Wochenende ein bisschen geschneit hat und die Sonne am Montag scheint, müssen die Leute wieder arbeiten. Das „Hüttli“ repräsentiert ein Idyll inmitten der klimatisch veränderten Umwelt. So sitzen die beiden Skischleppbediener vor dem Hüttli und erzählen weiter, oder sie überprüfen nach Reglement die verschiedenen Teile der Anlage und tragen die ausgeführten Wartungen in ein „Schurnal“ ein, zählen die Liftbügel und die Billette wieder und wieder, und üben den Notfall. Um Viertel vor vier stoppen sie den Skilift und schließen das Hüttli. Immer wieder betonen sie, dass man früher auch mehr für Schnee gebetet hätte und der sei in Massen gekommen und der Allmächtige war großzügiger, „…ganze Lastwagenladungen warf er uns mit beiden Händen vor die Haustüre, als würde er sagen, nehmt so viel ihr wollt, ich habe noch genug davon für die nächsten tausend Jahre. Stand man auf einem Hügel und schaute auf das Dorf hinunter, konnte man meinen, es sei verschwunden“ (33). Heute „verlangt der Herr fast, dass wir ihm auf den Knien zur Kirche rein kriechen, und das alles nur für etwas Schnee“ (61), der aber wegen der Erderwärmung nicht kommt, die auch die Gletscher schmelzen lässt. „…letzte Nacht ist die Zunge vom Gletscher abgebrochen, …dass man es durchs ganze Tal hören konnte, wie es gekracht hat, …und schaut man in ein paar Jahren hoch, ist der schöne Gletscher furt und furtibus, für immer und ewig, das grosse Reservoir, was einem bleibt, ist dann höchstens zu erzählen, wie es mal war“ (63). Der Gletscher gäbe die Gefangenen frei, „ja, ja, die Toten kehren heim“, die auf Bergtouren verschollen waren. Hat der Gletscher „mal einen gefressen, gibt er ihn nicht mehr so schnell her, …ja, wenn der Gletscher sich davonmacht, gibt er die Verschollenen zurück“ (63).

Arno Camenischs Texte sind durchzogen von Helvetismen und bündnerischen Dialektwörtern, sowie schweizerdeutsch geschriebenen Fremdwörtern, die seinen Schreibstil charakterisieren „Nur dürfte es noch etwas mehr schneien, Coffertami, aber der Himmel will nicht, eine Provocaziun ist das“ (47). Und wenn einmal einige Gäste zum Skilift kommen, wissen Georg und Paul am Ende des Tages nicht mehr wie viele es waren, obschon sie einen handbedienten Zähler haben. Solche Tage sind wenige, „nur etwas blöd, dass der Schnee grad zimli schnell wieder schmilzt“ (62). Aber „…wohin mit den Tourists, wenn hier kein Schnee mehr liegt. … Hätten wir etwas Schnee, wäre das Problem gelöst, …aber wenn der Winter den Schwanz einzieht und im Unterland bereits im Februar Frühling ist, …ja, wer kommt denn noch auf die Idee, zum Skifahren zu fahren, eine Schneekanone brauchen wir“ (87‒88), meint Paul, und Georg antwortet, die koste halt. Und immer wieder hat es Nebel und ist „ein bisschen warm“ (90) und „der Winter beisst halt nicht mehr. Ja, nicht mal in dieser Höhe, sagt der Paul, also irgendetwas ist da conträr, früher fror man sich die Arme ab“ (91). Heute träfe man Nackte oben auf dem Berg. Schlussendlich gibt der Schlepper noch seinen Geist auf, bzw. der Strom fällt aus, war noch nie passiert war.

Und was machen wir jetzt, fragt er und schaut den Georg an, das ist ja afängs eine triste Sache, das mit dem Schnee, und jetzt ist uns auch noch der schöne Schlepplist abgelegen, die gute Seele, er verwirft die Hände, sobald man wieder aufsteht, kommt der nächste Schlag, und mit jedem Winter sind wir wieder ein paar Leute weniger im Tal, und auch die Sprache schmilzt dahin wie der Schnee, und wenn die Winter mal ganz abgeschafft sind, man will sich gar nicht ausmalen, was für ein Drehbuch der Herrgott im Himmel als Nächstes bereithält, wenn es hochkommt, beginnt er vermutlich noch, die Berge ins Tal zu stürzen und macht uns alle zu Staub. […] nur der Winter legt sich quer, Petrus, Calöri, weigert sich schlichtweg, uns beizustehen, sagt der Paul (98).

Möchte Arno Camenisch mit dieser narratologischen Apokalypse bewusst einen Beitrag zu Problemen des Klimawandels und zur Diskussion in der Umweltpolitik leisten oder erzählt er einfach recht humorvoll eine Geschichte von Männern, die einen Skilift bedienen und sich über den Schneemangel beklagen? Jones und Morel (2020) zeigen, dass Geschichten mit Umweltthemen die Erfahrungen mit der Umwelt signifikant beeinflussen und vice versa. Außerdem behaupten sie, dass die aktuelle Umweltkrise teils auch die Krise in der narrativen Theorie beeinflusse. Sie plädieren für eine neue textuelle und strukturelle Econarratology.

7. Ergebnisse der strukturellen und komparatistischen Analyse

Das schriftstellerische Konzept von Arno Camenisch, seine real-poetische, kommunikative Alltagssprache stellt das Gegenteil von Gertrud Leuteneggers ästhetischer natur-poetischen Sprachbildern und Kommunikationsmustern dar. Was bei den beiden Autoren gleichermaßen vermittelt wird, ist die Relevanz von ökologischen Belangen. Arno Camenisch schreibt wie einfache Landsleute sprechen, und trotzdem klingt es poetisch, real-poetisch. Gertrud Leuteneggers Sprache ist gewaltige Naturpoesie. Beide Schreibkonzepte funktionieren als eine Form der Ökopoetik. Beide Autoren verfassen kommunikative Geschichten mit inhärenten ökologischen Problemdarstellungen, aber Lösungen offerieren sie keine, nicht die leisesten, noch wird die immer wichtiger werdende Implementation von Nachhaltigkeit in allem Umweltfragen angesprochen. Die Lesenden können sich an der resultierenden, dargestellten und bis zu einem bestimmten Grad interpretierten Ökokritik in den literarischen Texten erfreuen oder sie werden angeregt zum Reflektieren und zum Handeln.

Schmitt und Sollte-Gresser (2017) beschreiben das Verhältnis von Literatur und Ökokritik aus einer komparatistischen Perspektive, so wie hier versucht wurde zwei Texte der deutschschweizerischen Literatur von zeitgenössischen, aber zweier verschiedener Generationen angehörigen Schreibenden in Hinsicht auf thematische und strukturelle, ökokritische Darstellungen und Motive zu untersuchen. Der menschliche Dialog, eine allumfassende Kommunikationsbeziehung bildet den Fokus der Narrative innerhalb des veränderten Klimas aufgrund der Erderwärmung in beiden Texten. Zum Konzept des Anthropozentrismus fordern Schmitt und Sollte-Gresser, dass zumindest „eine reflektierte Form von Anthropozentrismus in den Kultur- und Literaturwissenschaften erreicht“ (15) werden müsse. Der Glaube an die Möglichkeit einer Umgehung der anthropozentrischen Perspektive bleibe aber eine Illusion. Dies gelte umso mehr, als menschengemachte Kulturerzeugnisse und nicht naturgegebene Erscheinungen analysiert werden sollten, wie dies im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Ökokritik der Fall sei. „Für die Literatur als Gegenstand der Ökokritik ergibt sich dann der produktive Widerspruch, dass sie es in besonderer Weise mit kulturellen, vor allem sprachlichen Mitteln ermöglicht, sich vorzustellen, wie eine nicht-anthropozentrische Perspektive aussehen könnte indem sie Annäherungen an nicht-menschliche Welten inszeniert“ (15-16). Gerade letzterer theoretischer Ansatz gilt bei Camenischs Text nicht, auch weil die beiden Protagonisten Gott und Petrus für das Fehlen des Schnees, aber auch die Technik, den Bügelskilift, für ihre alltäglichen Arbeitsprobleme verantwortlich machen. Das sprachliche Mittel, die Erinnerungsdialoge, stehen in Gertrud Leuteneggers Panischer Frühling und in Arno Camenischs Der letzte Schnee im Zentrum der Erzählungen. Verschieden ist nicht die Kommunikationsart – der anführungszeichenlose Dialog –, sondern die sprachlichen Zeichen. Bei Camenisch ist es das Lokalkolorit, das seine real-poetische, sprachliche Schreibeigenschaft positioniert und bei Leutenegger ist es ihre natur-poetische Sprache, die die Beziehungsgeschichte sowie ihre Ökopoetik per se definiert. Gertrud Leuteneggers Texte sind anspruchsvoller nicht wegen der erzählerischen Dialoge, sondern wegen der naturbeladenen Körperlichkeit und den thematischen und symbolträchtigen, sprachlichen Ausschweifungen. Arno Camenisch braucht die einfache, ungeschmückte, realgesprochene Sprache von Arbeitern mit helvetischem Humor, erzeugt mit lustigen Helvetismen, Dialektphrasen und phonetisch buchstabierten Wörtern auf praktisch jeder Seite.17 Die Hauptgemeinsamkeit der beiden Texte, Panischer Frühling und Der letzte Schnee besteht darin, dass sie ein Beispiel von ökokritischer Deutschschweizer Literatur darstellen, die einen umweltpolitischen Diskurs anregen können.

Um die dringenden, klimaverändernden Umweltprobleme zu lösen, braucht es heute mehr als nur Dialoge und literarische Ökokritik. Überall auf der Welt fordert die neue Generation von Aktivistinnen und Aktivisten politische Gesetze, strikte Regelungen und konkrete Handlungen, um die Umweltschäden zu reparieren und Nachhaltigkeit zu praktizieren sowie um mit prophylaktischen Maßnahmen den Planeten Erde zu retten. Es müssen neue angepasste Theorien und neue Ethikkonzepte in allen wissenschaftlichen Disziplinen – einschließlich in der Literaturwissenschaft – entworfen werden. Das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), seit 2019 geleitet von der Bundesrätin Simonetta Sommaruga, veröffentlicht im Magazin „die umwelt“18 viermal jährlich den neuesten Wissensstand und Beiträge für umweltgerechtes Handeln. Inwiefern diese Erkenntnisse und Aktionsprogramme in der Deutschschweizer Literatur öko-narratologisch von der neuen Generation von Schriftstellerinnen und Schriftstellern behandelt werden, ist noch offen.

Literaturverzeichnis

Camenisch, Arno. Der letzte Schnee. Schupfart 2018.
Duerbeck, Gabriele, Strobbe, Urte, Zapf, Hubert, Zemanek, Evi (Hg.): Ecological Thought in German Literature and Culture. London UK, New York 2019.
Ecopoetics (ed. Jonathan Skinner) Poetry Foundation. https://www.poetryfoundation.org/learn/glossary-terms/ecopoetics.
Goltfelty, Cheryll, Fromm, Harold (Hg.): The Ecocriticism Reader: Landmarks in Literary Ecology. Atlanta1996.
Heukenkamp, Ursula: Die Sprache der schönen Natur. Studien zur Naturlyrik. Berlin, Weimar 1982.
Jones, Erin, Morel, Eric (Hg.): Environment and Narrative: New Directions in Econarratology. Columbus 2020.
Latour, Bruno: Facing Gaia. Eight Lectures on the New Climate Regime. (Translated by Catherine Porter.) Cambridge UK 2017.
Latour, Bruno: The Politics of Nature. How to bring the Sciences into Democracy. Cambridge, MA 2004 (1999).
Leutenegger, Gertrud: Panischer Frühling. Berlin 2014.
Schmitt, Claudia, Solte-Gress, Christiane (Hg.): Literatur und Ökologie: Neue literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld 2017.
Zemanek, Evi (Hg.) Ökologische Genres: Naturästhetik – Umweltethik – Wissenspoetik. Reihe Umwelt und Gesellschaft. Göttingen 2018.


  1. Der Begriff „Ecocriticism“, bzw. seltener auch Ökokritik, basiert in dieser Analyse auf den historisch und komparatistisch zusammengefassten Bedeutungsansätzen und Anwendungen in verschiedenen Disziplinen und einer Vielzahl von literarischen Genres, wie in Zemanek (2018, S. 16-18) ausgearbeitet. Zemanek braucht den englischen Begriff – auch im Titel des Abschnitts – und nicht das deutsche Wort Ökokritik. Die Frage warum, wird nicht explizit angesprochen, außer dass theoretische Abhandlungen zur ökokritischen Literatur in den USA den Ursprung haben und methodisch in Pastoral und Apokalypse eingeteilt wurden (19f.). Eine allgemein plausible und wegbereitende Definition von Ecocriticism offeriert Goltfelty: Ecocriticism is the study of the relationship between literature and the physical environment. (Goltfelty xviii)
  2. Geschichte der Grünen Partei siehe https://gruene.ch/geschichte-der-gruenen. Abgerufen 16.9.2020
  3. Vgl. dazu Kofman, Afa: Bruno Latour, the Post-Truth Philosopher, Mounts a Defense of Science. In: New York Times, 25. Okt. 2018. Abgerufen unter: https://www.nytimes.com/2018/10/25/magazine/bruno-latour-post-truth-philosopher-science.html. 21.9.2020.
  4. Vgl. dazu Vietta, Silvio: Heidegger’s Ecological Criticism. In: Duerbeck, Gabriele et al. (Hg.): Ecological Thought in German Literature and Culture. London UK, New York 2019, S. 79-90.
  5. Vgl. z.B. Müller, Timo: Ecocriticism and the Frankfurt School. In: Duerbeck, S. 91-100.
  6. Die Sprache der schönen Natur. Studien zur Naturlyrik
  7. Poetry Foundation, Glossary of Ecopoetics. Abgerufen unter: https://www.poetryfoundation.org/learn/glossary-terms/ecopoetics. 12. Sept. 2020.
  8. (Vorabend (1975), Ninive (1977, 1981, 2008), Lebewohl, Gute Reise (1980), Gouverneur (1981), Komm ins Schiff (1983), Das verlorene Monument (1985), Meduse (1988), Kontinent (1985), Acheron (1994), Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom (2006), Pomona (2004), Matutin (2008, 2015) und Das Klavier auf dem Schillerstein (2017).
  9. Greta Thunbergs Rede an der UND-Klimakonferenz in Katowice, Polen. Abgerufen unter: https://www.youtube.com/watch?v=VbDnPj0G0wY. 25.8.2020.
  10. Zweite Neuauflage veröffentlicht vom Verlag Pro Libro, Luzern 2007.
  11. Haeberli, Wilfrid et. al. (Hg.): Gletscherschwund und neue Seen in den Schweizer Alpen: Perspektiven und Optionen im Bereich Naturgefahren und Wasserkraft. Zurich Open Repository and Archive University of Zurich: 2012. Abgerufen unter: https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/140414/1/2012_WEL_2012_H2_Gletscherschwund_und_neue_Seen.pdf [22.04.2020].
  12. von Eichhorn, Christoph: Ein Algenteppich durchzieht den Atlantik. In: Süddeutsche Zeitung, 4. Juli 2019. Abgerufen unter: https://www.sueddeutsche.de/wissen/sargassum-braunalgen-karibik-duenger-strand-gestank-mexiko-1.4512046. 13.09.2020.
  13. Ederer, Nora: Algenblüten nehmen weltweit zu. In: Süddeutsche Zeitung, 19. Okt. 2019. Abgerufen unter: https://www.sueddeutsche.de/wissen/algen-vermehren-sich-explosionsartig-in-seen-1.4641820. 13.9.2020.
  14. Z.B. im Roman Matutin (2008), in dem ein Vogelturm beschrieben wird, von dem aus Vogelschwärme auf grausame Weise in Netzen eingefangen und getötet wurden; auch in der Schweiz vom 17. bis 19. Jahrhundert bis dies 1875 verboten wurde, aber noch in Italien und Spanien praktiziert wird. Vgl. dazu Gertrud Leutenegger im Gespräch mit dem Schweizer Architekten Peter Zumthor. Abgerufen unter: https://www.dichterlesen.net/veranstaltungen/veranstaltung/detail/gertrud-leutenegger-und-peter-zumthor-im-gespraech-2027/. 22.9.2020.
  15. Grooten, M., Almond, REA: Living planet report 2018. World Wildlife Fund. Abgerufen unter: https://www.worldwildlife.org/pages/living-planet-report-2018. 15.09.2020.
  16. Camenisch fügt immer den bestimmten Artikel vor die Namen der Männer, der Paul und der Georg.
  17. Z.B. Schurnal = Journal; Füsik = Physik; Coifför = Coiffeur; Catastrofa = Katastrophe.
  18. Vgl. Sämtliche Magazine „die umwelt“: https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/dokumentation/magazin.html. Abgerufen 3. März 2021.