Über die faktuale Unzuverlässigkeit und die fiktionale Macht des Erinnerns.
Peter Stamms ‚Weihnachtsgeschichte‘
Marcia aus Vermont

Hartmut Vollmer
Leuphana Universität Lüneburg

In seinen Romanen und Erzählungen hat der vielbeachtete Schweizer Autor Peter Stamm immer wieder die fiktionale Macht und die faktuale Unzuverlässigkeit, den Authentizitätsanspruch und die Konstruktion einer trügerischen Realität der Erinnerungen aufgezeigt. Seine im Oktober 2019 veröffentlichte ‚Weihnachtsgeschichte‘ Marcia aus Vermont demonstriert dies in paradigmatischer Weise. Aus der Erinnerung erzählt der Ich-Protagonist der Geschichte, ein arrivierter Schweizer Künstler, von einer zufälligen, aber schicksalhaften Liebes-Begegnung mit der Titelfigur des Buches vor über drei Jahrzehnten in New York. Während eines erneuten Aufenthaltes in den USA versucht er, diese Begegnung erinnernd zu vergegenwärtigen, und wird dabei mit der Frage nach der Wahrheit der erzählten Erinnerungen konfrontiert. – Die Untersuchung geht den Fragen nach, welche erzählerische Funktion die Erinnerungen in Stamms ‚Weihnachtsgeschichte‘ besitzen, in welcher Weise sie die Relation von Realität und Fiktion bestimmen und inwiefern sie eine ‚andere Wirklichkeit‘ konstituieren.
Schlüsselwörter:
Peter Stamm, Fiktion, Realität, Erinnerung

About the factual unreliability and the fictional power of remembering. Peter Stamm’s ‚Christmas Story’ Marcia from Vermont
In his novels and stories, the highly regarded Swiss author Peter Stamm has repeatedly shown the fictional power and the factual unreliability, the claim to authenticity, and the construction of a deceptive reality of memories. His ‚Christmas Story’ Marcia from Vermont, published in October 2019, demonstrates this in a paradigmatic way. From memory, the first-person protagonist of the story, an established Swiss artist, tells of an unintentional but fateful love encounter with the book’s title character over three decades ago in New York. During a later stay in the USA, he tries to recall this encounter and is confronted with the doubt about the truth of the told memories. The search investigates the narrative function of the memories in Stamm’s ‚Christmas story’, in what way they determine the relationship between reality and fiction, and to what extent they constitute a ‚different reality’.
Keywords:
Peter Stamm, fiction, reality, recollection

I.

Für die Literatur, für die schriftstellerische Arbeit bedeutet das Erinnern eine konstitutive Initiation und Disposition des Schreibens. Der Autor oder seine literarische Figur vergegenwärtigt im Akt des Erinnerns eigene oder von anderen Menschen rezipierte Erlebnisse und Wahrnehmungen der Vergangenheit oder imaginiert diese und entwickelt so eine realitätsreklamierende Lebensgeschichte. Erinnerungen gelten oft als ein ‚Archiv der Vergangenheit‘ oder als ‚Rettung einer verlorenen Zeit‘, auch als eine tröstende Reaktion auf den Tod, in der Beschwörung, verlorenes Leben erinnernd zu bewahren und damit als unverlierbar, unvergänglich zu sichern.

Als Zeugnisse einer ‚wahren Realität‘, als ‚Dokumente des Authentischen‘, als historische Quellen sind Erinnerungen allerdings sehr fragwürdig und unzuverlässig. Die moderne Gedächtnisforschung hat belegt, dass Erinnerungen „dynamische Rekonstruktionen selektiv wahrgenommener Informationen“ sind, „emotional gefärbt und manipulierbar“.1 Das selektierende und strukturierende Gedächtnis, das durch die Erinnerungen persönlichkeitsbildend, identitätsstiftend wirkt, verändert so die wieder hervorgerufenen vergangenen Ereignisse; mit jedem neuen Abruf einer Erinnerung aus dem Gedächtnis vollzieht sich eine Veränderung der vermeintlich tatsächlichen Geschehnisse, wobei das Gehirn, wie neurowissenschaftliche Untersuchungen dargelegt haben, Erinnerungen nicht nur passiv, sondern auch aktiv löscht. Als ‚Wirklichkeitslieferanten‘ und ‚Wahrheitsevokationen‘ sind Erinnerungen folglich zu misstrauen. Gedächtnisforscher haben dementsprechend auf ‚falsche Erinnerungen‘ verwiesen und deren Entstehung wissenschaftlich untersucht.2 Ein entscheidender Faktor ist hierbei die Tatsache, dass Wahrnehmungen von Erinnerungen abhängig sind und Erinnerungen Wahrnehmungen prägen. Die subjektive Perzeption von Wirklichkeit, die erinnernd aktualisiert wird, kann somit keinen Anspruch auf eine ‚objektive Wahrheit‘ der Wirklichkeit erheben.

Peter Stamm hat in seinen Romanen und Erzählungen diese Unzuverlässigkeit der Erinnerungen immer wieder thematisiert und ihre Funktion der Vergegenwärtigung einer vergangenen, vermeintlich authentischen (Lebens-)Geschichte als fiktionale Konstruktion einer trügerischen Realität demonstriert. Mit seinem ‚erzählten Erinnern‘ lässt Stamm sich einem narrativen Prinzip zuordnen, das – zwischen autobiographisch orientierter Vergangenheitsverarbeitung und fiktionalem Authentizitätsanspruch – für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur signifikant ist.3 In seiner im Oktober 2019 veröffentlichten ‚Weihnachtsgeschichte‘ Marcia aus Vermont hat er diese Thematik, wie im Folgenden gezeigt werden soll, paradigmatisch in narrativer Konzentration neu gestaltet. Die vorliegende Untersuchung wird den Fragen nachgehen, welche erzählerische Funktion die Erinnerungen in Stamms ‚Weihnachtsgeschichte‘ besitzen, in welcher Weise sie die Relation von Realität und Fiktion bestimmen und inwiefern sie eine ‚andere Wirklichkeit‘ konstituieren.

II.

Eine literarisch inszenierte Vorstellung: Ein junger Schweizer, der Ich-Protagonist der Geschichte, streift an Heiligabend, scheinbar ziellos, durch die Straßen von New York. An einer Straßenecke bleibt er stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Plötzlich spricht ihn eine junge Frau an und bittet ihn um Feuer und um Geld für ihre (angebliche) Geburtstagsfeier am Weihnachtstag. Dann entschwindet sie: „Sie ging die Straße hinunter, und ich wußte, daß sie nicht zurückkommen würde. Ich wußte, daß heute nicht ihr Geburtstag war, aber ich wäre trotzdem mit ihr gegangen, wenn ich genug Geld dabeigehabt hätte.“ – Dies ist der Beginn von Peter Stamms Kurzgeschichte In den Außenbezirken aus seinem 1999 erschienenen Erzählband Blitzeis,4 die die zufällige Begegnung eines jungen Mannes und einer jungen Frau schildert, die nicht zu einer gemeinsamen Geschichte finden. So kann das Leben spielen: Ein Mann und eine Frau treffen sich und verlieren sich wieder; ihre (möglicherweise einsamen) Wege kreuzen sich und führen wieder auseinander – oder sie verlaufen, zumindest für kurze Zeit, gemeinsam, fügen sich vielleicht zu einem Weg.

Zwanzig Jahre später, in seiner ‚Weihnachtsgeschichte‘ Marcia aus Vermont, inszeniert Stamm die gleiche Begegnung noch einmal, gestaltet sie diesmal allerdings zu einer schicksalhaften Liebesgeschichte aus. Diesmal folgt der Ich-Erzähler der jungen Frau, Marcia, in ihre Wohnung, wo sie miteinander schlafen; bis kurz nach Jahresende verbringen sie einige leidenschaftliche Tage miteinander. Diese Geschichte, an die der Ich-Protagonist Peter, ein arrivierter Schweizer Künstler, der nach einem zweimonatigen Stipendiumsaufenthalt in Vermont/USA zum Rückflug in die Heimat in den Weihnachtstagen nach New York fährt, sich plötzlich erinnert, liegt jedoch mehr als dreißig Jahre zurück. Er erfuhr damals Bruchstücke aus Marcias Leben, so von ihrem „kleinen behinderten Bruder“ (145), der durch ihre Schuld, da sie nicht auf ihn aufgepasst hatte, im Alter von fünf oder sechs Jahren gestorben war, und von ihrem reichen Vater, einem Zeitungsverleger. Auch wenn es eine nur „kurze Zeit“ war, die Marcia und der Ich-Erzähler „miteinander verbracht hatten“ (20), wurden die Tage nach der Begegnung für Peter „zu den seltsamsten“ seines Lebens, „als wären für kurze Zeit alle Regeln und alle Konventionen außer Kraft gesetzt, als wäre alles möglich und erlaubt“ (ebd.). Für Irritation und Unruhe sorgte bei dem Ich-Erzähler dann aber der unverhoffte Auftritt von Marcias Freund David, einem Schriftsteller, verheiratet mit einer „sehr schöne[n]“ Frau (21), der Französin Michelle, und Vater zweier Kinder. In den folgenden Tagen erlebten Marcia, Peter, David und Michelle eine intensive gemeinsame Zeit, „in wechselnden Zusammensetzungen“, und im Gefühl absoluter „Freiheit“ (23). Nach Silvester endete die Vierer-Beziehung aber „so unvermittelt“, „wie sie begonnen hatte“ (24); Peter reiste bald in die Schweiz zurück und sah die drei niemals wieder.

Die dreiunddreißig Jahre zurückliegende Geschichte einer kurzzeitigen, verlorenen Liebesbeziehung gewinnt für Peter bei seinem erneuten Aufenthalt in den USA eine noch stärkere Gegenwart, da Marcias noch lebender Vater der Gründer der Künstlerkolonie und -stiftung in Vermont ist, die dem Ich-Erzähler das Stipendium verliehen hat. Und die Vergangenheit wird für Peter noch lebendiger, als er in der Schreibtischschublade seines Künstler-Studios ein rätselhaftes Manuskript entdeckt, eine von David verfasste „Weihnachtsgeschichte“, die die gemeinsamen erlebnisreichen Tage vor über drei Jahrzehnten in einer ganz anderen, weit ‚drastischeren‘ (vgl. 33) Version erzählt, als der Ich-Protagonist sie in seiner ‚Weihnachtsgeschichte‘ erinnert. Der Schlusssatz von Davids Weihnachtsgeschichte: „Ein Kind ward uns geboren“ (36), führt Peter zur irritierenden Vermutung, dass sich diese biblische Verkündung auf ein reales Kind von ihm und Marcia beziehen könnte. Tatsächlich erfährt er, dass Marcia, die später künstlerisch als Fotografin arbeitete, eine Tochter geboren und diese in einem Fotoband mit Aktaufnahmen porträtiert hatte, die für einen beträchtlichen Skandal sorgten.

Zu einer Wiederbegegnung Peters mit Marcia in Vermont kommt es allerdings nicht; zu vermuten ist jedoch, dass sich hinter der umsichtigen und sorgsamen Rezeptionistin der Künstlerstiftung, Tracy, Marcias (und möglicherweise Peters) Tochter verbirgt. Ohne das Rätsel seiner vergangenen Liebesgeschichte gelöst zu haben, verlässt der Ich-Erzähler nach einer mysteriösen Weihnachtsfeier Vermont und bereitet sich in New York auf den Rückflug in die Heimat vor.

Stamm, der als ein ‚Meister des lakonischen Erzählens‘ gilt, entwirft eigentlich einen ‚Lebensroman‘, dessen Komplexität er auf eine 80-seitige Geschichte konzentrativ reduziert, wodurch dem Leser konsequenterweise viele, für den Autor signifikante, erzählerische Leerstellen geboten werden. So werden konkrete Informationen zur Biographie der Titelfigur, zu ihrem Freund David und dessen Frau Michelle sowie auch zum Ich-Erzähler ausgespart. Fragen, ob der Ich-Protagonist tatsächlich der Vater von Marcias geheimnisvollem Kind ist, wie die rätselhafte ‚Weihnachtsgeschichte‘ Davids in das Studio Peters in Vermont gelangt ist, wer sich hinter Tracy verbirgt (ist sie die Tochter Peters?), bleiben offen. Surreale Szenen wie die Fieberphantasie des Ich-Erzählers (vgl. 61ff.) oder die Weihnachtsfeier in Vermont, bei der Peter der einzige Gast ist und sich ein Familienfoto ‚verlebendigt‘ (vgl. 71ff.), sorgen beim Leser für Irritationen und stellen die ‚Realität‘ der Geschichte in Frage bzw. durchbrechen die Realitätsebene der Erzählung.

Stamm, der als ein ‚Meister des lakonischen Erzählens‘ gilt, entwirft eigentlich einen ‚Lebensroman‘, dessen Komplexität er auf eine 80-seitige Geschichte konzentrativ reduziert, wodurch dem Leser konsequenterweise viele, für den Autor signifikante, erzählerische Leerstellen geboten werden. So werden konkrete Informationen zur Biographie der Titelfigur, zu ihrem Freund David und dessen Frau Michelle sowie auch zum Ich-Erzähler ausgespart. Fragen, ob der Ich-Protagonist tatsächlich der Vater von Marcias geheimnisvollem Kind ist, wie die rätselhafte ‚Weihnachtsgeschichte‘ Davids in das Studio Peters in Vermont gelangt ist, wer sich hinter Tracy verbirgt (ist sie die Tochter Peters?), bleiben offen. Surreale Szenen wie die Fieberphantasie des Ich-Erzählers (vgl. 61ff.) oder die Weihnachtsfeier in Vermont, bei der Peter der einzige Gast ist und sich ein Familienfoto ‚verlebendigt‘ (vgl. 71ff.), sorgen beim Leser für Irritationen und stellen die ‚Realität‘ der Geschichte in Frage bzw. durchbrechen die Realitätsebene der Erzählung.

Der Akt des Erinnerns wird von Stamm zu einem Prozess des Erzählens gestaltet, bei dem auf zwei zeitlichen Ebenen (der beiden USA-Aufenthalte des Ich-Protagonisten) im epischen Präteritum die Reminiszenzen und die damit verbundenen Reflexionen mit der geschilderten Handlung in Vermont verknüpft werden. Zum Ende geführt wird die Erzählung mit den im Präsens verfassten komprimierten Überlegungen des Ich vor seinem Rückflug von New York in die Schweiz (S. 78f.).

III.

Der Ich-Erzähler der ‚Weihnachtsgeschichte‘ ist ein für Peter Stamms Werk typischer verunsicherter, nicht sehr tatkräftiger und wenig entscheidungsfreudiger, Lebensglück suchender Protagonist, der als bildender Künstler erfolgreich ist und in seinem bindungslosen Leben erkennt: „Jede Entscheidung, die man traf, vernichtete hundert Möglichkeiten, und am Schluss gelangten wir alle an denselben Punkt und lösten uns auf im Nichts.“ (49)6 Peters Unsicherheit dokumentiert sich besonders in den Reflexionen über seine Erinnerungen an Marcia, die ihm immer wieder als täuschend und trügerisch erscheinen, sodass er deren Wahrheitsgehalt kontinuierlich in Frage stellt und er darüber nachdenkt, sich „das alles nur einzubilden“ (vgl. 18) und die Wirklichkeit zu ‚verklären‘ (vgl. 25). „Ich kann mich nicht mehr an Marcias Haar- oder Augenfarbe erinnern“, muss er sich eingestehen, „weiß nicht mehr, ob sie groß oder klein war, schlank oder füllig. Trotzdem habe ich das Gefühl, ich würde sie erkennen, wenn sie mir noch einmal auf der Straße begegnete.“ (13f.) Auch im weiteren Verlauf der Geschichte kann er sich „beim besten Willen nicht erinnern, wie sie ausgesehen hatte“ (31). Wiederholt erklärt er, sich nicht mehr konkret und präzise erinnern zu können, einige Dinge „vergessen“ zu haben, wie den Namen von Davids Frau, „Michelle oder Mireille“ (21); bei der erinnerten Vorstellung vom Wohnhaus des Ehepaars konzediert er: „Ich bin mir […] ziemlich sicher, dass ich mich täusche.“ (22) So bleibt ihm während seiner Retrospektive das Bekenntnis: „Ich hatte vieles vergessen, und woran ich mich erinnerte, hatte mit dem, was tatsächlich geschehen war, wohl nicht viel zu tun. Die Erinnerungen hatten über die Jahre ein Eigenleben angenommen, hatten sich zu einer Geschichte gefügt, die sich gut machte in einer Künstlerbiographie.“ (19) Mit diesem Eingeständnis seines Ich-Erzählers wirft Stamm in metafiktionaler Weise die Frage nach dem Verhältnis von Realität und Fiktion auf, mit Rekurs auf eine fingierte, inszenierte „Künstlerbiographie“, in der sich die wirklichkeitsverbürgenden autobiographischen Erinnerungen als literarisierte Transformationen des Authentischen erweisen. Stamm gestaltet seine Geschichte zu einem Spiel mit Realität, in dem bereits der Name seines Ich-Erzählers, Peter, eine Identität mit dem Autor, und damit Authentizität, suggeriert (bzw. vortäuscht); durch seine Bekenntnisse möglicher oder tatsächlicher Erinnerungstäuschungen offenbart das Ich sich aber als ein recht unzuverlässiger ‚Wirklichkeitsreferent‘. Indem Peter bzw. der Autor des Buches, die sich als Verfasser der Marcia-Geschichte verbünden, die erzählten Erinnerungen mit anderen (schriftlichen und visuellen) Zeugnissen konfrontieren, wird die Fragwürdigkeit der Authentizität der geschilderten vergangenen Erlebnisse weiter verstärkt.

IV.

Überraschend wirkt auf den Ich-Erzähler, wie auf den Leser, die Entdeckung des rätselhaften, etwa 20-seitigen Manuskripts, das den Titel „Eine Weihnachtsgeschichte“ trägt und dessen anonymer Verfasser von Peter rasch identifiziert wird; für ihn besteht kein Zweifel, dass der Autor der Geschichte David ist: „Ich erkannte seine zugleich gestelzte und schnoddrige Art, seine Ironie und seine Blasiertheit.“ (32) Peter liest nun aber eine andere Version, gewissermaßen einen Gegentext, der damaligen gemeinsamen Erlebnisse in der Weihnachtszeit. David lässt Marcia und Peter als ‚Mary‘ und ‚Joseph‘ auftreten, wodurch er seine ‚Weihnachtsgeschichte‘ in einen biblischen Kontext stellt, auf den auch der Schlusssatz der Geschichte „Ein Kind ward uns geboren“ verweist. Allerdings bietet der Verfasser alles andere als die Geschichte einer ‚heiligen Familie‘ oder die Inszenierung eines religiösen Krippenspiels, vielmehr eine von herber „Drastik“ (33) und „Brutalität“ (34) geprägte „Anklageschrift“ (35), die dem Ich-Erzähler als die „reinste Fiktion“ (ebd.) erscheint, wobei er konstatiert, dass Davids „Erinnerungen kaum etwas mit meinen und vermutlich auch nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun hatten“ (33): „Der Text hatte etwas verlogen Rührseliges, er wirkte wie die späte Beichte eins reuigen Sünders“ (35), der seine „Liebe zu Marcia“, die „Verachtung“ für seine Frau Michelle und den „Hass“ auf seinen ‚Rivalen‘ Peter (36) in spürbarer Intensität literarisiert hatte (vgl. ebd.). Peter erscheint in Davids Version als „Bösewicht der Geschichte“, der, „aggressiv und aufdringlich“, „in eine paradiesische Dreiecksgeschichte eindrang und alles durcheinanderbrachte“ (33). Auch der im Text als ‚Dean‘ verschlüsselte David selbst wirkt auf den Ich-Erzähler „ganz anders, als ich ihn erlebt hatte, ein sensibler junger Mann, hochbegabt, aber lebensuntauglich, der von allen Seiten bedrängt und manipuliert wird“ (35).7

Wenngleich Peter an der Wirklichkeit und Wahrheit seiner eigenen erinnerten Weihnachtsgeschichte wiederholt zweifelt, wird er nun mit einer anderen Version derselben Beziehungsgeschichte konfrontiert, die für ihn die „reinste Fiktion“ darstellt (35). Dennoch muss er einschränkend feststellen, dass Davids Geschichte „vermutlich nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun“ hat; ganz sicher ist er sich, trotz der ‚drastischen‘ Abweichung von seinen eigenen (jedoch nicht ganz zuverlässigen) Erinnerungen, aber nicht.

Doch nicht nur Davids Weihnachtsgeschichte wird zum ‚Prüfstein‘ für die ‚Wirklichkeit‘ und ‚Authentizität‘ von Peters Erinnerungen, auch ein Fotoband dient einem ‚Realitätsvergleich‘, der schließlich Diskrepanzen offenbart und zugleich die erinnerte/erzählte Geschichte des Ich-Protagonisten aus anderer Perspektive erweitert.

Von einer alten Buchhändlerin in Vermont, Hilda, erfährt Peter, dass Marcia „vor vielen Jahren einige Bekanntheit erlangt habe als Fotografin“ (45).8 Mit der Veröffentlichung eines Fotobandes, betitelt „Extended Family“, hatten die darin vorgestellten Aufnahmen ihrer nackten Tochter für einen „kleinen Skandal“ gesorgt und „eine riesige Diskussion ausgelöst über Missbrauch und Pädophilie“ (46). Hilda gelingt es, ein gebrauchtes Exemplar des schon lange vergriffenen Bandes für Peter zu besorgen, in dem er überraschend „eine undatierte Widmung […] ‚To Peter‘ und darunter Marcias Name“ entdeckt (50). Der erste Teil des Buches zeigt Familien, Paare „in Innenräumen“ „bei ganz alltäglichen Tätigkeiten“; „viele von ihnen waren nackt, oder fast nackt“ (51). Auf den Ich-Erzähler wirken die schwarzweißen Fotos „wie Schnappschüsse und trotzdem komponiert“ (ebd.). Der zweite Teil des Bandes, betitelt „A Child Is Born“, umfasst die ‚skandalösen‘ Fotos von Marcias Tochter, die das Mädchen in verschiedenen Lebensphasen und an unterschiedlichen Orten präsentieren: „Auf manchen Bildern war das Mädchen nackt, und vielleicht war der Skandal, dass es eine ganz gewöhnliche, ungeschützte Nacktheit war, keine Pose wie auf erotischen Fotos, die doch viel weniger zeigten.“ (53) In einem Interview, das Peter im Internet recherchiert, hatte Marcia diese Fotos mit dem Hinweis „verteidigt“, dass sie ihr Kind nicht als „Mutter und Tochter“, sondern als „Künstlerin und ihr Modell“ fotografiert habe (54). Bemerkenswerterweise hatte Marcia in diesem Interview überdies erklärt: „Ich habe keine Erinnerungen an meine Kindheit wie andere Leute […], manchmal denke ich, meine einzigen Erinnerungen sind jene, die ich um die Fotos meiner Kindheit herum erfunden habe. Vielleicht erschaffe ich mir meine eigene Vergangenheit. Ich misstraue meinen Erinnerungen, auch sie könnten Fiktionen sein.“ (Ebd.)

Marcia pointiert hier die Problematik, mit der sich auch der Ich-Erzähler konfrontiert sieht, und formuliert zugleich die zentrale Thematik der Geschichte Peter Stamms. In den Fotos versucht die Protagonistin, das alltägliche Leben in ‚nackter‘ Realistik festzuhalten, menschliche Beziehungen unverfälscht zu dokumentieren, den Menschen (ihr Kind) in seiner Natürlichkeit darzustellen; gleichzeitig sind diese Fotos ein künstlerisches Medium, mit dem die Wirklichkeit „komponiert“, und damit fiktionalisiert, wird. Die von einigen Betrachtern als ‚obszön‘ empfundenen kindlichen Nacktfotos sind so auch als ästhetische Aktaufnahmen zu sehen, bei denen sich sittlich-moralische Vorwürfe in künstlerischer Perspektive als irrelevant erweisen. Für Peter erhellt und konkretisiert sich durch die entdeckten Fotos von Marcia zwar die diffuse Vergangenheit, durch die Überblendungen seiner evozierten Erinnerungen werden die fotografischen ‚Realitätsbilder‘ aber zunehmend ungenau und gleiten in die Fiktion. Der Ich-Erzähler entwickelt Erinnerungsfotos seiner vergangenen Liebesgeschichte, die ihre Eindeutigkeit verlieren und Räume öffnen für Vergangenheit belebende Imaginationen. Und so muss Peter schließlich bekennen: „Seltsamerweise wurde mein Bild von Marcia immer undeutlicher, je mehr ich über sie erfuhr. Das Leben, von dem ich las, war nicht das Leben der jungen Frau, die ich gekannt hatte und die nur noch in Erinnerungen existierte.“ (48) Der Ich-Erzähler rekurriert damit auf das häufig zu beobachtende Phänomen, dass wir uns ein Bild von einem Menschen machen, das mit dem tatsächlichen Wesen oft nicht kongruent ist.

Als Peter erneut durch Marcias Fotoband blättert und sich die Bilder „lange anschaut“ – das Buch kommt ihm bald „wirklicher“ vor, „als die Welt“, die ihn umgibt (58) –, stellt er sich signifikanterweise „ein anderes Leben vor“, „ein Leben, das ich hätte führen können, aber für das es nun zu spät war“ (65). ‚Kind‘ und ‚Familie‘, wie es die Titel der beiden Teile von Marcias Fotoband indizieren, sind für Peters Imaginationen dieses „anderen Lebens“ die Schlüsselbegriffe.9

Die Surrealität eines Fotos zeigt sich beispielhaft bei der mysteriösen Weihnachtsfeier am Ende von Peters Geschichte, als der Ich-Erzähler an der Wand des opulent geschmückten und Speisen wie im Schlaraffenland bereitstellenden Festsaales eine Fotografie (wieder)entdeckt, die sich auch in seinem Studio befindet und auf der eine Weihnachtsparty mit „maskierten Gästen“ (73) zu sehen ist, die der Betrachter als Marcias Familie identifiziert: „Als ich genauer hinschaute, sah ich, dass es in diesem Raum aufgenommen worden war. Ich sah dieselben Möbel und Gardinen, den Weihnachtsbaum, der vor demselben Fenster stand und ganz am Rand des Bildes einen Teil eines Büfetts, das nicht weniger reich gedeckt zu sein schien als jenes heute.“ (74) Angesichts dieser fotografischen Spiegelung seiner gegenwärtigen Realität fühlt sich Peter plötzlich von den verkleideten Menschen lebendig umgeben, sodass sich der zunächst „unbelebte Eindruck“, den der menschenleere Saal auf den einzigen Gast, der die (vergebliche) Hoffnung hat, Marcias Vater zu begegnen und „vielleicht sogar“ die verlorene Geliebte selbst wiederzusehen (vgl. 70), „wie eine Kulisse für einen Film oder ein Fotoshooting“ auf ihn gemacht hat (72), überraschend in ein ‚Magisches Theater‘, mit einem wundersamen Maskenspiel, verwandelt (vgl. 74f.). – Ein konkretes Familienfoto, das die Metamorphose der Wirklichkeit bereits durch die Verkleidung der Abgebildeten signalisiert, initiiert also eine Fiktion, die den Ich-Erzähler auf einen ‚doppelten Boden‘ seiner Lebensrealität führt und seine existenzielle Verunsicherung bildhaft verstärkt. In der Wirklichkeit begegnet Peter Marcias Familie in Vermont (abgesehen von der möglichen Tochter Tracy) nicht. Sein eigenes, auf Marcia fokussiertes Familienbild bleibt imaginär. Es wird von David, dem ‚Liebesrivalen‘, an die heilige biblische Familie angelehnt, die durch seine ‚dämonische‘ Weihnachtsfabel jedoch konterkariert wird, und vom Ich-Erzähler später während seiner fiebrigen Erkrankung an einer Grippe als eine Lebensrealität von Vater (Peter), Mutter (Marcia) und Kind (Tracy) phantasiert,10 wodurch sich für den Bindungslosen auf seiner Suche nach einem Halt und Sinn der Existenz ein mögliches, aber letztlich nicht (mehr) zu realisierendes Ziel darstellt. – Als Peter sich nach seiner Weihnachtsfeier-Phantasmagorie, die ihn in eine lebendige Gesellschaft von Marcias Familie versetzt hat, allein, als einziger Gast wiederfindet und hoch oben am Himmel, sternengleich, ein Flugzeug erblickt, fasst er rasch einen Entschluss; „noch in der Nacht“ packt er seinen Koffer (76) und bereitet sich auf die Heimreise vor: „Ich hatte es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen.“ (78)

V.

Neben Davids Weihnachtserzählung und Marcias Fotoband gewinnt ein drittes ästhetisches Medium, ein Gedichtband, referenzielle Bedeutung für die Geschichte des Ich-Protagonisten. In Hildas Buchladen stößt Peter auf „ein schmales gelbes Bändchen“, „dessen Titel“ ihn „neugierig“ macht: „A Map of Verona“: „Der Gedichtband war kurz nach dem Krieg erschienen, der Autor war ein Engländer, dessen Namen ich noch nie gehört hatte.“ (44) Bei dem vom Erzähler nicht genannten Autor handelt es sich um den britischen Dichter, Übersetzer, Hörspielautor und Journalisten Henry Reed (1914–1986), dessen Lyrikband A Map of Verona 1946 erschien: „Ich blätterte durch das Bändchen“, so berichtet der Ich-Erzähler, „begann die Gedichte zu lesen und hatte das seltsame Gefühl, dass fast jedes mit mir und Marcia zu tun hatte, mit unserer ersten Begegnung und nun meinem Aufenthalt hier.“ (44) Als Beweis zitiert Peter wiederholt Verse aus dem Band und transferiert seine (unsicheren) Erinnerungen damit auf eine poetische Bedeutungsebene, die der fragwürdigen persönlichen Geschichte gewissermaßen ein metaphysisches Fundament verschafft und der erzählten vergangenen Realität durch die sprachkünstlerische Fiktion eine zeitlose Gültigkeit verleiht.

Am Ende der Geschichte, bei der Vorbereitung auf seine Abreise aus Vermont, einem „Ort außerhalb der Zeit“ (10), fällt dem Ich-Protagonisten noch einmal Reeds Lyrikband „in die Hände“ (76); und erneut liest er „jenes Gedicht, das mich an Marcias und meine Geschichte erinnert hatte“ (ebd.). In den (übersetzten) Versen: „Ich habe die Tür geöffnet, als Zeichen, dass ich mich ergebe. Das Haus füllt sich mit Kälte. Warum bleibst du da draußen? Ich bin bereit zu antworten. Die Türen sind offen. Warum kommst du nicht herein?“ (77) findet Peter schließlich die poetische Erklärung seiner rätselhaften, unerfüllten Liebesbeziehung zu Marcia, wobei er sich „plötzlich […] nicht mehr sicher“ ist, „wer von uns beiden in der Dunkelheit herumschlich und wer die Tür geöffnet hatte“ (ebd.). Innen und außen, Licht und Dunkelheit, Freiheit und Fesselung, Leere und Geborgenheit, einsame Kälte und beglückende Herzenswärme: In dieser Polarität erkennt der Ich-Erzähler am Ende den Spiegel seiner verlorenen Liebe. – Im Augenblick dieser Erkenntnis notiert Peter, offensichtlich auch als Antwort auf Marcias geheimnisvolle Dedikation bzw. Botschaft an ihn in ihrem Fotoband, die Widmung „Für Marcia“ mit seiner Unterschrift in das Buch und hinterlässt den Band, als Erinnerung an seinen Aufenthalt in Vermont, als Erinnerung an seine Liebe zu Marcia, aber auch als Zeichen des Aufbruchs, in seinem Zimmer. Durch die poetische Kunst hat Stamm hier eine Elevation der unerfüllten (diegetischen) Realität vollzogen.

Im religiösen, biblischen Kontext des Buches dürfte es kein Zufall sein, dass die Begegnung des Ich-Erzählers mit Marcia „dreiunddreißig Jahre“ zurückliegt (38) – eine mögliche Anspielung auf das Lebensalter Jesu Christi, als er gekreuzigt wurde und auferstand. Auf die Geburt Jesu – „Ein Kind ward uns geboren“ (vgl. Davids Weihnachtsgeschichte), „A Child Is Born“ (vgl. Marcias Fotoband); Marcia selbst gibt bei der ersten Begegnung mit Peter vor, am Weihnachtstag geboren zu sein – wird sinnfällig rekurriert; dreiunddreißig Jahre später erlebt der Ich-Erzähler erinnernd gewissermaßen eine ‚Auferstehung‘ seiner verlorenen Liebe, die allerdings unerfüllt bleibt. Stattdessen führen ihn die verunsichernden Erinnerungen in eine Gegenwart, in der er zu neuer Lebensmotivation und zu neuen Zukunftsperspektiven, zu neuen künstlerischen Plänen gelangt.

Hatte der Ich-Erzähler schon zuvor bekundet: „Ich hatte keine Lust mehr auf Erinnerungen, auf die alten Geschichten, wollte weitermachen, vorwärtsgehen statt zurückzuschauen auf ein Leben, das ohnehin nicht mehr zu ändern war“ (57), beendet er seine ‚Weihnachtsgeschichte‘ mit der – nun im Präsens geschriebenen, also ganz gegenwärtig wirkenden – Gewissheit, die für ihn eine unumstößliche Wahrheit trägt: „Mein Leben geht weiter.“ (79) Der Lebenssinnsuchende verweist am Ende auf eine unbestimmte, offene Zukunft, in der für ihn durch den Abschluss seiner vergangenen, nicht mehr zu korrigierenden und zu wiederholenden Geschichte jetzt alles möglich und eine neue Geschichte zu schreiben ist.

VI.

Peter Stamm manifestiert in Marcia aus Vermont erzählerisch zwei Formen des Erinnerns, die sich auf Marcel Prousts bekannte, in seinem großen Romanzyklus À la recherche du temps perdu demonstrierte Differenzierung der unwillkürlichen Erinnerung, der ‚mémoire involontaire‘, und der willentlichen Erinnerung, der ‚mémoire volontaire‘, beziehen lassen. Die Fahrt nach New York, wo der Ich-Erzähler nach seinem Stipendiumsaufenthalt in Vermont auf seinen Rückflug in die Schweiz wartet, löst in ihm unwillkürlich Erinnerungen an seine dreiunddreißig Jahre zurückliegende Begegnung mit Marcia aus und vergegenwärtigt auf eine sinnlich-emotionale Weise eine gescheiterte, verlorene Liebesbeziehung. Die wiedererweckten Gefühle eines kurzzeitigen, aber intensiv erlebten, unfassbaren Glücks bewegen Peter zu einer Suche nach der verlorenen Zeit, wobei die Recherche (im Internet, in Gesprächen und in Text- und Bilddokumenten) die Vergangenheit nur unpräzise und fragmentarisch hervorrufen kann; ja, das Erinnerungsbild Marcias wird für Peter durch die gezielte Informationsrecherche, wie er konstatiert, „immer undeutlicher“. Und so verhält es sich auch mit seinen ‚mémoires volontaires‘, seinen willentlichen Erinnerungen, die ihm beim bewussten Versuch, vergangene und verlorene Bilder zu rekonstruieren, keine zuverlässigen Informationen bieten und den Erinnernden zunehmend verunsichern.

Das Konzept der ‚mémoires involontaires‘, unwillkürliche, zufällige, spontane Erinnerungen zu evozieren und dadurch aber eine ‚authentischere‘, vom Bewusstsein nicht zensierte, und damit nicht verfälschte, Vergangenheit sinnlich zu verlebendigen, erfährt der Ich-Erzähler auch in seinen zufälligen Entdeckungen von Zeichen, Fotos und Texten, die ihm – im Gegensatz zu seinen bewussten Recherchen – andere, die vermeintliche ‚Realität‘ revidierende oder konkretisierende Informationen verschaffen und mitunter irritierend wirkendes Licht in das Dunkel der enigmatischen Weihnachtsgeschichte bringen.

In Momenten des unterbewussten Erlebens, in surrealen, imaginativen Szenen erblickt Peter ein alternatives Leben, Projektionen des möglichen Glücks, die sich für ihn in der Vorstellung verdichten, Vater eines Kindes zu sein, mit Marcia eine Familie gegründet zu haben. Im Bewusstsein der Realität, aus rationaler Perspektive, muss er allerdings begreifen, dass das Geschehene „nicht mehr zu ändern“, die Vergangenheit nicht wiederholbar und korrigierbar ist. Peter erkennt schließlich, dass die Erinnerungen die Zeit durch Vergegenwärtigung des Vergangenen zwar (temporär) aufzuheben, aber letztlich nicht außer Kraft zu setzen vermögen. So offenbart sich das Erinnern für den Ich-Erzähler einerseits als eine Bewahrung des Glücks, andererseits als Beweis einer Illusion des Glücks.

Um die Macht und die Magie der Erinnerungen zu demonstrieren, verschafft Stamm Marcia schließlich auch keinen zweiten Auftritt und verwehrt ihr und dem Ich-Erzähler eine Wiederbegegnung in Vermont, die vermutlich die Unerfüllbarkeit eines nachgeholten bürgerlichen Familienglücks in konsequenter Weise bestätigt hätte.

Dem glücksuchenden Protagonisten stellt sich am Ende seiner Geschichte die Aufgabe, sich nicht in seinen Erinnerungen und Imaginationen zu verlieren, sondern in seiner Lebensrealität weiter an das sinnstiftende Glück zu glauben und es zuversichtlich, zumindest in Augenblicken, tatkräftig zu erreichen zu versuchen.

Literaturverzeichnis

Gansel, Carsten / Zimniak, Paweł (Hrsg.): Das „Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen 2010.
Jambor, Ján: Zum Bild der Familie in Peter Stamms Erzählprosa. In: Sandberg, Beatrice (Hrsg.): Familienbilder als Zeitbilder. Erzählte Zeitgeschichte(n) bei Schweizer Autoren vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin 2010, S. 265-279.
Kühnel, Sina / Markowitsch, Hans J.: Falsche Erinnerungen. Die Sünden des Gedächtnisses. Heidelberg 2009.
Shaw, Julia: Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht. München 2016.
Stamm, Peter: Blitzeis. Erzählungen. Zürich, Hamburg 1999.
Ders.: Seerücken. Erzählungen. Frankfurt/M. 2011.
Ders.: Marcia aus Vermont. Eine Weihnachtsgeschichte. Frankfurt/M. 2019.
Vollmer, Hartmut: Die sprachlose Nähe und das ferne Glück. Sehnsuchtsbilder und erzählerische Leerstellen in der Prosa von Judith Hermann und Peter Stamm. In: literatur für leser, Jg. 29, H. 1, 2006, S. 59-79.
Wüstenhagen, Claudia: Wie werden wir uns in zehn Jahren an heute erinnern? In: ZEIT Wissen, Nr. 6, 14.10.2014.


  1. Wüstenhagen, Claudia: Wie werden wir uns in zehn Jahren an heute erinnern? In: ZEIT Wissen, Nr. 6, 14.10.2014.
  2. Vgl. etwa Kühnel, Sina / Markowitsch, Hans J.: Falsche Erinnerungen. Die Sünden des Gedächtnisses. Heidelberg 2009; Shaw, Julia: Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht. München 2016.
  3. Vgl. dazu umfassender Gansel, Carsten / Zimniak, Paweł (Hrsg.): Das „Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen 2010.
  4. Zürich, Hamburg 1999, S. 37-43; Zitat S. 38
  5. Hier wie im Folgenden wird zitiert nach: Stamm, Peter: Marcia aus Vermont. Eine Weihnachtsgeschichte. Frankfurt/M. 2019. Die Zitate werden im Text lediglich mit der in Klammern gesetzten Seitenzahl nachgewiesen.
  6. Vgl. dazu auch Vollmer, Hartmut: Die sprachlose Nähe und das ferne Glück. Sehnsuchtsbilder und erzählerische Leerstellen in der Prosa von Judith Hermann und Peter Stamm. In: literatur für leser, Jg. 29, H. 1, 2006, S. 59-79.
  7. Der von Peter beschriebene zwielichtige, egozentrische Charakter Davids und sein zweifelhaftes schriftstellerisches Talent spiegeln sich auch in seiner nebulösen Biographie wider, über die der Ich-Erzähler durch Internetrecherche nur „Widersprüchliches“ (vgl. 55) herausfindet und die in der Mitteilung kulminiert: „Auf der Homepage einer Zeitung aus Burlington fand ich einen kurzen Nachruf auf jemanden mit Davids Namen, der vor ein paar Jahren erschienen war. Das Alter stimmte, aber ich war nicht sicher, ob es sich wirklich um ihn handelte.“ (56)
  8. In Bezug auf die fotografierende Marcia ist neben der bereits genannten Kurzgeschichte In den Außenbezirken eine weitere intertextuelle Verknüpfung mit einer früheren Erzählung Stamms zu entdecken: Peters Erinnerung an einen Aufenthalt gemeinsam mit Marcia und Michelle in Coney Island, wo Marcia ständig fotografiert (vgl. 46f.), findet sich in dieser Szene einer Dreierkonstellation schon in der Prosaskizze Coney Island im Erzählband Seerücken (Frankfurt/M. 2011, S. 187-190).
  9. Peter Stamm hat in seinen Werken immer wieder die ambivalente Beziehung seiner einsamen, bindungslosen und Freiheit reklamierenden Protagonisten zu familiären Lebensentwürfen – zwischen existenzieller, sinnstiftender Geborgenheit und unglücklicher Unfreiheit – thematisiert; vgl. dazu Jambor, Ján: Zum Bild der Familie in Peter Stamms Erzählprosa. In: Sandberg, Beatrice (Hrsg.): Familienbilder als Zeitbilder. Erzählte Zeitgeschichte(n) bei Schweizer Autoren vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin 2010, S. 265-279.
  10. Diese Fieberphantasie des Grippeerkrankten ist die Folge eines Schneespaziergangs, bei dem das Eis eines Flusses Peters Tritt nicht standhält und Wasser in seinen „Schuh schießt“ (58), worauf das Ich durch die blendende Helligkeit des Schnees, „betäubt vom Licht und von der Kälte“ (59), ins Torkeln gerät und in den „tiefen, weichen Schnee“ fällt. In „euphorischer Stimmung“, zugleich mit dem bedrohlichen Gefühl, „als stecke die Kälte tief in meinem Inneren“ (ebd.), kehrt Peter in sein Studio zurück und wird dort, nach Ausbruch des Fiebers, von Tracy gesund gepflegt. Die extremen Erlebnisse im Schnee bereiten die nachfolgenden fieberphantasierten Familienbilder vor, in denen neben Peter und Marcia Tracy in der Rolle des gemeinsamen, ebenfalls erkrankten und von ihren Eltern umsorgten Kindes in Erscheinung tritt (vgl. 62f.).