In dem nachträglich schon in Phnom Penh geschriebenen Kurztext mit demselben Titel Tristesse Royale zählt Kracht auf, wogegen sich die Demonstration richtete: „gegen den Krieg in Serbien und im Kosovo […] gegen die Nato-Intervention, für den Kommunismus, gegen den über Nacht zum Nazi gewordenen RAF-Menschen Horst Mahler, gegen den Zionismus und gegen die USA, für den Frieden und gegen die Diskriminierung von lesbischen Berlinerinnen.“1 Das Bild wird ironisch ergänzt: „Es war also eine diffuse Demonstration. Vorneweg stand ein Mann auf einem im Schritttempo fahrenden Lieferwagen und rasselte Parolen herunter. Hinter ihm liefen junge Menschen in schwarzen FC-St. Pauli-T-Shirts, Nato-raus-Plakate halbherzig in die Luft reckend. Danach marschierten einige Lesbierinnen, und hinter denen liefen wir.“ (GB, 130) Nach der Demonstration zerstoben die Teilnehmer, einige gingen nach Hause, einige setzten sich ins nächste Café und genossen den Rest des Tages. Die als subversive Tat (GB, 132) gedachte Teilnahme der Adlon-Gruppe an der Demonstration zeitigte keine Wirkung. Nichts änderte sich an der Demonstration selbst, nichts an dem Verlauf der Konferenz. So wie die Demonstration in der Wahrnehmung zu einer Scheindemonstration mutiert, in der jede Parole, jede Idee einer anderen in ihrer Wertlosigkeit gleicht, so konzentriert sich die weitere Diskussion im Hotel auf den Style der Kundgebung oder eher den fehlenden Style der Teilnehmer. Von Stuckrad-Barre klagt über den ausbleibenden Geschmacksinn der „Hausbesetzer, Friedensbewegten und so weiter“, sie verstünden nicht, „sich so herzurichten, dass es einem gefällt“. (TR, 95) Bessing bereut, dass die alte Ästhetik der Demonstrationen in Paris verlorenginge, die er jedoch nicht aus eigener Erfahrung kennt, sondern vermittelt durch die Fotos von William Klein, wie ihm von Schönburg supponiert. Der Leerlauf der Demonstration wird durch den Leerlauf der Konferenz fortgesetzt. Aus dem möglichen Protest wird eine leere Geste. Das Ästhetische der alten Demonstrationen wird noch einmal durch die Zusammenführung ihrer skandierten Parolen mit Chorälen hervorgehoben. Zugleich werden die Rollen der Zuschauer und Akteure zugeteilt. So beobachtete Eckhart Nickel im Café Kranzler sitzend eine Kundgebung, die in den 80er Jahren in Frankfurt stattfand. (TR, 95) Die Demonstration wird für ihn zu einem medialen Ereignis, das demzufolge ästhetisiert wahrgenommen wird. Es klingt also etwas gespielt, wenn Alexander von Schönburg sich in seiner Enttäuschung über die Demonstration in Berlin ereifert: „Darauf [die Ausschreitungen – D.K.) hatte ich eigentlich gehofft. Wenn ich schon diese Panzerfahrzeuge sehe, dann möchte ich doch auch die Steine fliegen sehen, die Knüppel oder Dachlatten, den Qualm.“ Die Begeisterung verschlägt ihm fast den Atem, wenn er – sich wohl an Apokalypse Now von Francis Ford Coppola erinnernd – hinzufügt: „Napalm vielleicht.“ (TR, 94)
Die groteske Dissoziation der Berliner Demonstration verbunden mit der Aufteilung der Gesellschaft in die Demo-Teilnehmer und die Zuschauer, wie bei einer Theateraufführung, führt das sozial-politische Ereignis in die rein ästhetischen Dimensionen über. So wird aber die Demonstration ihres eigentlichen Sinnes beraubt. Die Teilnahme an der Kundgebung wird lediglich zur Demonstration, dass man demonstriert. Anders als im Fall von Joachim Lottmanns Figur in Mai, Juni, Juli, die angesichts der Tatsache, dass zwei Polizisten sich aktiv an einem Sit-In beteiligten, aus Protest in die CDU eintritt2. Eine Haltung des Dagegenseins-gegen-die-die-dagegen-sind, die von Dirk Frank als „Meta-Protest“ bezeichnet wurde. Während der Franksche Begriff „Meta-Protest“ sowohl eine „Steigerung als auch eine Überwindung der orthodoxen Protestkultur“3 intendiert, kann man im Fall vom popkulturellen Quintett, und besonders von Kracht, was noch gezeigt wird, von keiner tatkräftigen Überwindung sprechen. Der Style und der Schein stehen im Vordergrund.
Die Hingabe an die Staffage wird durch eine Szene von einem kurzen Prosastück Tristesse Royale4 aus Der gelbe Bleistift noch potenziert. Durch die Zusammenführung der Berliner Kundgebung mit einer anderen Demonstration, diesmal in Phnom Penh, wird ein Rahmen geschlossen. Bessing und Kracht sitzen auf einer Veranda des Foreign Correspondents Club of Cambodia und schauen auf eine sich unten versammelnde Menschenmenge. Der Strom ist ausgefallen, die Ventilatoren und die Straßenlaternen sind ausgegangen, es ist dunkel geworden. Den Himmel schneiden einige Blitze und die schwerbewaffnete Polizei geht an den Straßenkreuzungen in Stellung. Die Demonstranten tragen Lumpen, manche sind verkrüppelt. Sie fordern nur eines: „Die Erhöhung des kambodschanischen Mindestlohns von monatlich vierzig US-Dollar auf sechzig.“ (GB, 132) Der Ich-Erzähler stellt unverblümt fest:
Joachim Bessing und ich waren zu feige, mitzumarschieren. Was uns vor wenigen Stunden in Berlin noch als herrlich subversive Tat vorgekommen war, nämlich das wahllose Mitmarschieren bei unsinnigen Demonstrationen, hielt uns hier mit einem lastwagengroßen Spiegel unser wahres Gesicht vor: wir waren feige Popper. Und wir erkannten: Hier in Kambodscha hört die Popkultur auf. Es gab hier keinen ironischen Bruch zwischen dem, was ist und dem, was sein sollte. Hier ging es um zwanzig Dollar mehr im Monat.“ (GB, 132)
- Christian Kracht: Der gelbe Bleistift. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2012, S. 129-130. Weiterhin mit dem Sigle „GB“ gekennzeichnet. ↩
- Joachim Lottmann: Mai, Juni, Juli. Köln 2003, S. 163. Vgl. auch: Nadja Geer: Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose. Göttingen 2012, S. 131-132. ↩
- Nadja Geer, wie Anm. 4, S. 132. ↩
- Vgl. Anm. 3. ↩