Vergessene Texte 1 – Beispielartikel

Eine in den Augen der Popper sinnlose Kundgebung der sich sicher fühlenden Demonstranten wird einer existenzwichtigen in Phnom Penh gegenübergestellt. Dort ein Spiel, an dem jeder zur Selbstbelustigung teilnehmen kann, hier ein Kampf ums Überleben. Unmissverständlich wird die Grenze des für die Camp-Ästheten1 Akzeptablen markiert. Ihre Welt ist die des Scheins, des Anführungsstriches. Das wahre Leben ereignet sich anderswo, sie erscheint ihnen aber als zu gefährlich. Es bleibt nichts Anderes übrig, als die Herausforderung der Scheinwirklichkeit hinzunehmen. Wie ihr zu begegnen ist, resultiert aus ihrer Beschaffenheit. Die Schlussszene von Tristesse Royale, die sich im Café Br?lé abspielt, führt in die Räume dieser ästhetischen Wirklichkeit über. Während Kracht und Bessing sich im Café über Ästhetizismus unterhalten, verändert sich grundsätzlich ihr Umfeld:

Eine Seitenstraße scheint sich indes aufzulösen; man glaubt einer optischen Täuschung zu erliegen, erkennt dann aber, daß lediglich eine eben noch stabil geglaubte Hauswand von Gehilfen in blauen Overalls weggetragen wird, und wie in Natalie Imbruglias Video zu „Torn“ löst sich der Hintergrund auf und gibt den Blick frei auf das wahre Phnom Penh. Merkwürdigerweise sieht es genauso aus wie die eben weggetragene Kulisse. (TR, 189)

Das Vermögen, zwischen der Wirklichkeit und der Fiktion zu unterscheiden, geht verloren. Mehr noch, es gibt keinen Garant, dass die jetzt gesehene Wirklichkeit nicht mehr eine theatralische Kulisse ist, hinter der eine weitere der Entdeckung harrt. Die Flucht vor der realen Welt, die nicht mehr die Welt der Protagonisten ist, in die Scheinwelt entlarvt sich als endlose Flucht über die Möbius Schleife. Oliver Jahraus legt dar, dass das Subjekt in diesem Fall dank dem angewandten ästhetischen Fundamentalismus2, der in einer extremen Übersteigerung des Ästhetischen gründet, seine Autonomie bewahren kann. Den Begriff „Ästhetik“ versteht Jahraus in streng idealistischem Sinne, was bedeutet, dass der Begriff nicht nur „eine idealistische Färbung besitzt, sondern selbst ein idealistischer Begriff ist“xxxxxxxxxxxxx. Das Faszinierende an dieser Vorstellung von idealistischer Ästhetik sei, wie Jahraus schreibt, der Umstand, dass sie sich im Moment ihrer Infragestellung und sozialen Relativierung gegen diese Tendenzen mit einem übersteigerten Konzept von Autonomie zu immunisieren versuche.10 Wird die idealistische Ästhetik heutzutage wieder bemüht, dann nur in Form eines Experiments, sogar eines radikalisierten Experiments11. Die Radikalität dieses Projekts drückt sich in der Mythopoetik, wie sie von Jahraus bezeichnet wird, und die auf der semiotischen Struktur des Mythos bei Roland Barthes gründet, aus. Diese setzt voraus, dass der Mythos ein Signifikat ist, das selbst zum Signifikant wird. Auf diese Weise erhält er eine Doppelfunktion: ein Zeichen wird zum Zeichen des Zeichens. Wie gerade dargelegt schöpft sich diese Mythopoetik bei Kracht nicht in einer Verdoppelung aus, die Wirklichkeit wird multipliziert. Die Negation des Ästhetischen als eines rettenden Moments ist da viel radikaler, weil sie endlos ist.12 Das ist der subversive Moment, in den auch der reflexive des Subjekts eingeschlossen wird. In der mythopoetischen Struktur kann das Subjekt, das zum Objekt der Selbstreflexion wird, seine Autonomie bewahren. Literarisch wird dies an der geheimnisvollen Figur Mavrocordato in 1979 konkretisiert, die sich dank eines „closed circuit“ retten kann.


  1. Die Autoren von Tristesse Royale werden durch Nadja Geer im zitierten Werk der Camp-Kultur, wie sie Susan Sontag beschrieb, zugeordnet. Vgl.: N. Geer, wie Anm. 4 und Till Huber: Im Herzen der Uneigentlichkeit. Wie Anm. 3, S. 224, wo der Autor sich auf die Analyse der Camp-Kultur von Sontag beruft und den gesteigerten Ästhetizismus bei Kracht konstatiert.
  2. Die Autoren von Tristesse Royale werden durch Nadja Geer im zitierten Werk der Camp-Kultur, wie sie Susan Sontag beschrieb, zugeordnet. Vgl.: N. Geer, wie Anm. 4 und Till Huber: Im Herzen der Uneigentlichkeit. Wie Anm. 3, S. 224, wo der Autor sich auf die Analyse der Camp-Kultur von Sontag beruft und den gesteigerten Ästhetizismus bei Kracht konstatiert.