Der Unmöglichkeit der empirischen Wirklichkeit bewusst, nehmen die Krachtschen Figuren eine distanzierte Position zur konstruierten Wirklichkeit ein, in der sich sowohl Gegenwart als auch Vergangenheit gleichwertig manifestieren. In der Scheinwirklichkeit, in der die entkräfteten Zeichen lediglich auf sich selbst verweisen, geht es nicht mehr um die Zeichen selbst, sondern um das permanente Verweisen.
Die gesteigerte Künstlichkeit mehrfacher ironischer Brechung13 erlaubt der Hauptfigur in Faserland, auf Bezeichnungen zurückzugreifen, die in der Massenkultur ihre frühere Last des Dritten Reiches verloren haben. In einer Art Auflehnung dagegen nennt der namenlose Ich-Erzähler auf seiner Reise von Sylt bis nach Zürich ältere Deutsche als Nazis. Mal ist es ein Herr, der unvorsichtig über die Straße will und dabei auf das kommende Auto nicht achtet. Fast überfahren schimpft er der Fahrerin Karin hinterher und wird durch den Erzähler sofort für einen alten Nazi gehalten. Dasselbe passiert mit dem Taxifahrer, um anschließend alle älteren Deutschen als Nazis zu klassifizieren:
Ich weiß, das klingt jetzt komisch, aber ich sage das trotzdem mal: Ab einem bestimmten Alter sehen alle Deutschen aus wie komplette Nazis […] Da muss man nur in bestimmte Orte fahren, wo sehr viele Rentner sind, dann kann man das sehen […] Diese Welt-am-Sonntag-Leser in ihren Gabardinehosen mit der immerwährenden Bügelfalte, den in matten Farben gehaltenen Blousons, die viel zu großen Brillen mit Goldrand, die ihre riesigen pockigen Nasen und Ohren noch extra unterstreichen. Ich verstehe das nicht. Früher sahen sie nicht aus wie Nazis. Dieser Rentner, den Karin auf Sylt fast überfahren hätte, der mit dem Cordhütchen, der sah sicher früher auch nicht aus wie ein Nazi. Und der Taxifahrer, der mich zur Max Bar bringt, der auch nicht. Dabei sieht man es ihm im Gesicht an, dass er einmal KZ-Aufseher gewesen ist oder so ein Frontschwein, der die Kameraden vors Kriegsgericht gebracht hat, wenn sie abends über den blöden Hitler Witze gemacht haben.14
Die Vergangenheit holt die Gegenwart auf eine unerwartete Art und Weise auf, wobei das Gewicht der Beschuldigung durch Situationskomik stark relativiert wird. Es ist eben der ironische Bruch, der dem Subjekt eine gewisse Souveränität gewährleistet und der ihm erlaubt, verschiedene Zeichen und Begriffe aus dem Repertoire der Vergangenheit in die Gegenwart zurückzurufen und in neue Kontexte zu setzen. Kracht entfremdet die dargestellten Bilder, setzt sie der Camp-Ästhetik konform, in Anführungszeichen, indem er sie theatralisiert oder wie in einem Film laufen lässt. In Faserland entwickelt sich die Reise selbst als würde sich ein Filmband vor den Augen des Ich-Erzählers entrollen. Sucht er in der Gegenwart, in der sich die Handlung des Romans abspielt, nach einem Halt für sich, nach einem Anderen, in dem er sich widerspiegeln könnte, so scheitert er am Ende und verschwindet. Was die Gegenwart ihm nicht anbieten kann, versucht er anhand von Bildern und Motiven aus der Vergangenheit zu erreichen.
Die Zusammenfügung der Bilder von der Vergangenheit und der Gegenwart sowie ihre Dynamik verläuft nach einer bestimmten Choreographie, deren Mustergestaltung Kracht, Munz und Nikol in Nordkorea konstatieren. Die nordkoreanische Wirklichkeit erscheint ihnen als „gigantische Installation, ein manisches Theaterstück“15. Da tritt der autoritäre Herrscher Kim Jong Il als Regisseur eines großen Spektakels auf, dem koreanischen Volk wird eine Ansammlung von Bildern serviert, von denen behauptet wird, sie seien die Wirklichkeit. Daher auch der Titel des Buches, der an den Film von Paul Verhoeven anknüpft Total Recall16, in dem die Machthaber vollständige Kontrolle über das Erinnern der Gesellschaft ausüben können. Die Unterscheidung zwischen dem Realen und dem Imaginierten wird völlig verunmöglicht. Als Kommentar zur übersteigerten Ästhetisierung der Wirklichkeit fügt Kracht hinzu: „weiter als Nordkorea, so scheint es, kann man sich auf diesem Planeten nicht von der Realität entfernen.“17 Dass unter den Autoren der Totalen Erinnerung auch Kim Jong Il genannt wird18, wirft neues Licht auf die Position des Camp-Künstlers, der sich nach der Rolle eines totalen Regisseurs sehnt. Als solcher kann er die Bildsequenzen der Gegenwart mit denen der Vergangenheit willkürlich mischen, auswechseln und ersetzen, und das einzig Wahre in diesem permanenten Setzungsprozess vermitteln.
Kracht kleidet sich ins Gewand eines solchen Regisseurs, wenn er auf die alten Bilder und Mythen in den Romanen Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) und Imperium (2012) zurückgreift. Im neuesten Text Imperium zeichnet er ein Panoramabild von Deutsch-Neuguinea, der ehemaligen Kolonie des Deutschen Reiches. Die Hauptfigur „August Engelhardt aus Nürnberg, Bartträger, Vegetarier, Nudist“ (19) flieht aus der Realität des wilhelminischen Reiches. Der industrialisierten Zivilisation müde begibt er sich um 1900, vielen seiner Zeit- und Geistesgenossen der Reformbewegung gleich, an die Ränder des Imperiums, um dort seiner Vorstellung gemäß leben zu können. Die Idee, die ihn bewegt, gründet in der Überzeugung, dass man sich, lehnt man alle unreinen Nahrungsmittel ab, nur von den Früchten der Kokospalme und Sonnenlicht ernähren kann. Die etwas skurrile Figur will dem künftigen Meister der Regie, einem „verhinderten Künstler“ ähnlich, ein soziales Kunstwerk schaffen. Nicht umsonst tauchen immer wieder Anspielungen auf Adolf Hitler auf, welche gewisse Gemeinsamkeiten beider Figuren hervorheben. Beide „schöpften durchaus aus dem esoterischen Gesamtpanorama dieser Zeit“19. Die Zeit scheint übrigens, wie der Erzähler es darlegt, besonders günstig für die Deutschen zu sein. Es sieht so aus, als „würde es das Jahrhundert der Deutschen werden, das Jahrhundert, in dem Deutschland seinen rechtmäßigen Ehren- und Vorsitzplatz an der Weltentischrunde einnehmen würde“20. Es ist einer der Momente, in denen der Erzähler, von dem man kaum etwas erfährt, als ein Kommentator aus der Gegenwart die vergangene Wirklichkeit erklärt. Indem er als Chronist auftritt, versucht er, dem Roman, also einem rein fiktiven Text, den Anschein einer wahrheitsgetreuen Übermittlung zu geben. Durch diese Verbindung wird jedoch die Wahrhaftigkeit des Textes nur unterminiert. Einerseits wird das vermeintlich Historische der Chronik, andererseits noch einmal das Fiktive hervorgehoben, denn wie man in der Geschichtsforschung schon längst weiß, können die Chroniken keinesfalls als zuverlässige Quellen betrachtet werden. Somit wird in dem fiktiven Text dessen Fiktivität absurderweise durch einen Einschub potenziert, der Anspruch auf Echtheit erhebt. Der Roman ist aber keine Auseinandersetzung mit der Fiktionalität der literarischen Texte, wie sie z.B. Wolfgang Hildesheimer betrieb. Kracht fragt nicht mehr nach den Grenzen des Fiktiven und Realen, sondern nach den Möglichkeiten der Ästhetisierung, denn nur im permanenten Prozess der Ästhetisierung kann das Subjekt seine souveräne Position noch retten. Deswegen bleibt der Erzähler nicht bei der Bestimmung des Textes als eine Chronik, sondern verlegt den Text etwas später, unauffällig, aber doch dezidiert, in den ästhetischen Bereich des Films. Nachdem Engelhardt wegen seiner Naivität betrogen wurde und sein ganzes Vermögen, mit dem er eine Kokosnussplantage kaufen wollte, verlor, begleitet ihn ein Hotelier zum Bahnhof, Engelhardt steigt ein und
dort im Abteil sitzend […] die Schulter an einen Mitreisenden gelehnt, den Rücken an die Holzbank gedrückt, die Augen geschlossen, dafür die wirren langen Haare offen, die Reisetasche vorn an seinen Bauch gepreßt, beginnt plötzlich der Kinematograph zu rattern: ein Zahnrad greift nicht mehr ins andere, die dort vorne auf dem weißen Leintuch projizierten, bewegten Bilder beschleunigen sich wirr, ja sie laufen für einen kurzen Augenblick nicht mehr vorwärts, wie vom Schöpfer ad aeternitatem vorgesehen, sondern holpern, zucken, jagen rückwärts. Govindarajan und Engelhardt treten verharrenden Fußes in die Luft – fidel anzusehen – und hasten rückwärts Tempelstufen herab, […] immer stärker flimmert der Lichtstrahl des Projektors, es knackt und knistert, und nun wird alles augenblicklich formlos […] und dann manifestiert sich, nun freilich richtig herum und wieder in exakter Farbig- und Geschwindigkeit, August Engelhardt in Herbertshöhe (Neupommern) sitzend, im Empfangssalon des Hotels Fürst Bismarck. (I, 47-48)