Von einer verdoppelten Fiktionalisierung entrollt sich jetzt der Roman filmartig zur multiplizierten Wirklichkeit, denn an dieses Entfremdungseffekt schließt sich noch die Verbindung der Engelhardtschen Vergangenheit mit der Gegenwart der Projektion an. Der Kinematograph erscheint im Roman überhaupt als Garant des Ausgleichs zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Er machte „die Wirklichkeit exakt so dinglich, wie sie geschah, zeitlich kongruent, als sei es möglich, ein Stück aus der Gegenwart herauszuschneiden und sie für alle Ewigkeiten als bewegtes Bild zwischen den Perforationen eines Zelluloidstreifens zu konservieren.“ (I, 66) Die Grenze zwischen beiden verwischt sich nicht immer so eindeutig, wie in der Szene mit dem Kinematographen. Einer der frühen Kontakte mit den Einheimischen auf der Insel, die Engelhardt erstanden hat, verläuft nicht nur komisch, sondern weist eben auch Elemente auf, welche den Unterschied zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart aufheben. Nachdem Engelhardt, der Vegetarier, die Einheimischen daran hindert ein Ferkel zu schlachten und auszunehmen, rutscht er auf einem Stück Darm aus und entlädt dadurch die gewachsene Spannung. Am nächsten Tag belehrt er seine künftigen Arbeiter, er wünsche sich nicht, dass auf der Plantage Fleisch gegessen wird. Als Antwort kommen Fragen, wie es mit dem Rauchen und Alkoholtrinken stünde. Das 21. Jahrhundert lässt grüßen, schrieb Lothar Schröder in seiner Kritik21.
Der Rückgriff auf das im Titel genannte Imperium des wilhelminischen Deutschlands kann aber nicht bloß als eine Kulisse betrachtet werden. Zwar beweist der Text, dass Kracht gründlich die Geschichte der Südseekolonie studierte, das stolze Imperium, von dem im Roman gesagt wird, dass das anbrechende Jahrhundert ihm gehören würde, erscheint jedoch von seinen Rändern her etwas suspekt. Schon während der Schifffahrt werden die Deutschen auf dem Boot im starken Kontrast zur vermeintlichen zivilisatorisch höheren Stellung dargestellt: „Bläßliche, borstige, vulgäre, ihrer Erscheinung nach an Erdferkel erinnernde Deutsche lagen dort und erwachten langsam aus ihrem Verdauungsschlaf, Deutsche auf dem Weltzenit ihres Einflusses.“ (I, 12)
Wird der Unterschied zwischen dem Vergangenen und Gegenwärtigen nivelliert, wird der ehemalige koloniale Diskurs in den post-kolonialen übergeführt und in aktuelle Kontexte gesetzt. Der gepflegte Ästhetizismus erhält demzufolge die zusätzliche Funktion des Verweisens auf die Ambivalenzen in Identität bildenden Prozessen, in denen, um mit Homi K. Bhabha zu sprechen, „das Bild immer nur ein Beiwerk zu Autorität und Identität“22 sei. Klischeehafte Zuordnungen, welche auf die Einheimischen und die Repräsentanten des Reiches projiziert werden, werden durch die ironischen Brechungen in Frage gestellt.
Ähnlich verfährt Kracht auch in seinem früheren Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, in dem das ganze Repertoire der kolonialen Klischeevorstellungen über die afrikanischen Einheimischen hervorgeholt wird. So hat die Kolonialmacht Schweiz Militärschulen eingerichtet, da man für den Schweizer Krieg gute Soldaten braucht und „woher sollte man sie nehmen, wenn nicht vom nie versiegenden Menschenquell der afrikanischen Alliierten“23. Eine naive Einfältigkeit der Afrikaner wird mit der Beibehaltung der kolonialen Perspektive zum Ausdruck gebracht, wenn die Auserwählten zur Manöverübung in der Nähe vom Kilimandscharo geführt werden. Die sich ihnen präsentierende „Ausdehnung der Welt und die damit korrespondierende Weisheit [ihrer] Ausbilder schien [ihnen] endlos.“ (IW, 62) Den Höhepunkt in der Wiederholung des Kolonialdiskurses bildet die Szene am Kilimandscharo, wenn die afrikanischen Soldaten zum ersten Mal den Schnee erblicken. Sie fangen an, sich mit Schneebällen zu bewerfen und Figuren zu formen, darunter „überdimensionierte Penisse“ (IW, 66). Anschließend stellen sie stolz fest: „Wir waren Schweizer“. Die vollständige Übernahme der kolonialmachtzentrierten Weltwahrnehmung erscheint so selbstverständlich wie die stereotype Darstellung der Schweizer als bescheidene, rechtschaffene und zuverlässige Meister. Sie schienen den Afrikanern unbestechlich, gradlinig und fair, so dass der größte Wunsch der Rekruten war, “genauso zu werden wie sie“ (IW, 57). Nach einiger Zeit sprechen sie auch kein Chiwa mehr, sondern Schweizer Mundart. So grotesk selbstverständlich wie Engelhardt in Imperium das erstandene Land in Besitz nimmt, so grotesk wirkt hier die Selbstverständlichkeit der kolonialen Weltsicht. Dies umso mehr als ihre Grundlage in die Schweiz verlegt wird. Nicht die genannten Eigenschaften der Afrikaner oder der Schweizer sind jedoch das Ziel der ästhetizisierenden Übersteigerung, sondern gerade diese Selbstverständlichkeit, mit der dem Projekt „Moderne“ kontinuierlich gefolgt wird. Genauso wenig wie das Bild des Anderen im kolonialen Diskurs als Spiegel seiner selbst und für die Bildung der Identität dienen kann, so wenig zuverlässig zeigen sich die angeblich stabilen nationalen und kulturellen Mythen, auf denen kollektive Identität gebaut wird. Durch deren Ästhetizisierung stellt sich nicht nur das Subjekt auf eine distanziert-autonome Position, sondern erhält Krachts Werk auch ein stark kulturkritisches Moment.