Vorwort

Dinge in der deutschsprachigen Literatur der Schweiz

Die in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts in den Geisteswissenschaften eingetretene ‚materielle Wende‘ ist für die ausgeprägte Aufmerksamkeit verantwortlich, die in literarischen Texten den ‚Dingen‘ – Oberbegriff für Gegenstände, Sachen, Objekte – geschenkt wird. Das Materielle und die Materialität rücken immer mehr ins Zentrum des Interesses.

Besonders seit Karl Marx ist die materielle Basis menschlicher Beziehungen, bzw. die Mensch-Objekt-Relation, Gegenstand philosophischen Denkens, wobei das Interesse der neueren Literaturwissenschaft sich nicht nur auf die Objekte in ihrer Relation zu den Menschen, sondern auch auf ihre eigene, selbständige Existenz bzw. auf die Dinge an sich richtet. Bekanntlich hat Bruno Latour in seiner politischen Ökologie für die Rechte der Objekte plädiert, die er als ‚nichtmenschliche Wesen‘ betrachtet; er ist der Sprecher eines ‚Parlaments der Dinge‘ und geht davon aus, dass die Dinge handelnde Akteure sind, die zusammen mit menschlichen Akteuren in Handlungszusammenhängen oder aber auch allein agieren können. Roland Barthes nimmt eine Trennung zwischen ‚existentiellen‘ und ‚technologischen‘ Konnotationen des Objekts vor. Es fehlt nicht an weiteren dingtheoretischen Ansätzen, die entsprechende, oft Narratologie, Stilistik und Kulturwissenschaft verbindende methodologische Verfahren angeregt haben, um die Rolle der Dinge in literarischen Texten unter poetologischen, formalen und sozialhistorischen Gesichtspunkten zu erforschen. Ausgehend von Komposita wie ‚Dingwelt‘ (Walter Benjamin), ‚Dinggedicht‘ (Kurt Oppert für Rainer Maria Rilkes Neue Gedichte), Dingsymbol (Begriff entstanden nach Paul Heyses ‚Falkentheorie‘) haben sich Termini wie Dingtexte, Dingprosa und Dingkultur durchgesetzt.

Gegenstände entfalten oft ein Eigenleben und üben damit eine geheimnisvolle Kraft auf Menschen bzw. auf Autoren und Autorinnen aus. Ob und inwiefern gehören spezifische Objekte der imaginativen Welt eines Autors / einer Autorin? Welche Aspekte des jeweiligen Dinges regen den Autor / die Autorin dazu an, sich in seinem / ihrem Werk herauszustellen? Durch welche spezifischen formalen Methoden (Auflistung, ‚zeitlupenartige‘ Beschreibung, Ekphrasis, Anrede usw.) werden Dinge in einem Text dargestellt? Sind sie Träger der Handlung, wie z. B. im Märchen? Dienen sie zur Charakterisierung einer Romanfigur, einer Romanwelt?

Auf diese und weitere Fragen greifen die unten versammelten Beiträge zurück, die sich damit in den Prozess der Erschließung neuer Zugänge zur Literatur einordnen.

Die Herausgeber
Dariusz Komorowski, Anna Fattori, Ján Jambor